Michael Kress
Michael Kress  

Es weihnachtet sehr

Die nachfolgende Geschichte erschien 2011 im "Das Nürnberger Weihnachtsbuch" des Wellhöfer Verlages. Es wurde 2017 unter dem Titel "Das kriminelle Nürnberger Weihnachtsbuch" neu aufgelegt. Meine erste Veröffentlichung.

 

 

Der Pater

 

 

   Von der Bahnhofstoilette ging er die wenigen Schritte zu den Schließfächern. Wolfgang Frey packte die Plastiktüte in das Fach und schloss die Tür. Den Schlüssel befestigte er an seiner Halskette. Die ersten Meter lief er etwas ungelenk. Er musste sich eingewöhnen. In der Bahnhofspassage schwoll der Passantenstrom weiter an. Wolfgang reihte sich ein. Alles drängte in die Stadt. Japaner, mit der obligatorisch umgehängten Kamera, Amerikaner mit breiten Hüten. Schweizer Wortfetzen mischten sich mit hektischem Italienisch. Ein Stimmengewirr. Beim Turmbau zu Babel konnte es nicht vielfältiger gewesen sein.

   Alle wollten zum Nürnberger Christkindelmarkt. Nabel der Welt in diesen Tagen. Mit Genugtuung sah Wolfgang die ehrfurchtsvollen Blicke, die ihm folgten.

   »Das Wort Respekt, mein Junge, ist eine Erfindung der Oberen«, pflegte sein Vater zu sagen. »Stell dir alle nackt vor. So hat uns Gott erschaffen. Den Polizisten, den Bankdirektor, die Nonne und die feine Dame. Sei nicht unterwürfig«

Wolfgang lächelte versonnen. Kleider machen Leute, könnte man auch sagen. Und er, er war heute jemand.

   Auf der Königsstraße empfing ihn ein eisiger Wind. Mochte das Kleidungsstück unbequem sein, es schützte. Zumal er darunter noch seinen Pulli und eine Hose trug.

   Er wechselte die Straßenseite. Vor einem Schaufenster blieb er stehen und betrachtete sein Spiegelbild. Fast musste er lauthals loslachen. Zum ersten Mal sah er sich in voller Größe als Pater. Die Soutane umwehte seine Beine. Aus der dunklen Stofftasche entnahm er die Sammelbüchse. In goldenen Buchstaben hatte er den Schriftzug »Für das Waisenhaus Zenn«  aufgemalt. Er schüttelte die Büchse. Es schepperte vernehmlich. Vorhin hatte er sein ganzes Kleingeld hineingeworfen. Anschubfinanzierung.

   Ein älterer Herr trat neben ihn und musterte ihn unter buschigen Augenbrauen.

   »Wie tief sinkt sie noch, die katholische Kirche? «  Beim Weitergehen brabbelte dieser vor sich hin. Wolfgang konnte es nicht mehr verstehen. Verunsichert sah er dem Mann nach. 

   Seine Irritation wuchs weiter. Eine junge Frau blieb nur wenige Meter entfernt stehen, sah ihn an und lachte.  Sie hatte sich bei ihrem Freund untergehakt.

   »Schau«, prustete sie.

   »Guten Einkauf«, antwortete ihr Begleiter zu Wolfgang gewandt.

   Der drehte seinen Kopf. Er stand direkt vor dem Beate-Uhse-Laden. Eine Schaufensterpuppe, fast nackt, hob drohend eine Peitsche. Wo hatte er nur seine Sinne? Eilig lief er weiter.

   Seine Hand umschloss die Sammelbüchse. Ersteigert für 2,45 Euro bei eBay. Der Priesterrock stammte aus der Wäscherei, für die er arbeitete. Niemand störte sich daran, wenn er den einen Tag später auslieferte.

   Eine perfekte Tarnung. Maßgeschneidert für diese Tage. Das Waisenhaus Zenn war seine Erfindung. Es gab nicht einmal eine Ortschaft dieses Namens. Das hatte er im Internet recherchiert. Nur ein kleiner Zufluss der Regnitz hieß so. Niemand würde nachfragen. Dank der Soutane.

   Er passierte die erste Würstchenbude. Ein Mann mit rot-weiß karierter Schürze wendete mit einer Zange Steaks. Fett zischte auf. Im Stand daneben gab es Erdnüsse, gebrannte Mandeln und Lebkuchenherzen. Der Duft von Glühwein hing in der Luft. Schon kam die nächste Würstchenbude. Wolfgang bog ab.

   »Drei im Weckla! « bestellte er und biss sich auf die Lippen. Damit hatte er sich als waschechten Nürnberger verraten. Aber das scherte niemanden. Der Mann hinter dem Grill nahm den Fünf-Euro-Schein entgegen und gab Wolfgang das Wechselgeld. Dann reichte er ihm das Brötchen mit den leckeren, kleinen Bratwürstchen. Wolfgang trat an den Senfspender. Der Mann beugte sich über den Tresen.

   »Ihr Geld gebe ich Ihnen gleich wieder zurück« 

   »Oh«, entfuhr es Wolfgang. »Vielen Dank! « In seiner freien Hand hielt er noch das Wechselgeld. Er wartete, bis der Schein im Schlitz verschwand und warf das Kleingeld hinterher. Ehe er es sich versah, trat ein Paar auf ihn zu. Weitere Münzen klimperten.

   »Danke. Vielen Dank! «

   Das lief gut an. In Gedanken sah er das Geld auf dem Tisch liegen. Wie viel mochte in so eine Büchse passen? Mehr als genug für ein leckeres Essen! Das wollte er sich gönnen. Ein feines, üppiges Mittagessen. Am liebsten im Essigbrätlein in der Altstadt. Rochen auf schwarzen Bohnen mit Ananas-Vinaigrette. Als Hauptgang Schweinebauch mit Garnelen und Orangenzesten. Und zum Dessert Rhabarber mit Graupen-pfannenkuchen und Cardamonsauce. Dazu erlesenen Wein. So um die hundert Euro würde das kosten. Sein Anzug hing bereit, frisch gereinigt und gebügelt.

   Als er den Hauptmarkt erreichte, bog Wolfgang gleich in die erste Gasse der weltbekannten Budenstadt, dem Nürnberger Christkindlesmarkt ein.  Hier schlenderten die Menschen gemächlich entlang. An deren Ende befand sich erneut ein Imbiss. Saftig brutzelten die feinen kleinen Nürnberger Bratwürstchen vor sich hin, ein Berg Zwiebeln duftete verlockend. Wolfgang blieb stehen. Seine Zunge fuhr über die Lippen. Was waren einmal Drei? Nichts als ein Zahnlückenfüller. Sein Magen knurrte.

   »Drei im Weckla«, orderte er wie zuvor.»Und einen Glühwein «

   »Bitteschön, Hochwürden«. Und: »Ihr Geld lassen Sie stecken. «

   »Danke, zu gütig«, flötete Wolfgang. „Ich spende es den Ärmsten«  Er steckte einen weiteren fünf Euro Schein in die Büchse und grinste über das ganze Gesicht. Das war ein Spaß!

   Andere hatten ebenfalls Hunger. Und viele, die eine Pause einlegten, gaben ihm ihr Wechselgeld.  Jeden der Spender bedachte er mit einem gütigen Nicken.

   So lässt es sich aushalten, fuhr es ihm durch den Kopf.  Abermals bestellte er seine „Drei im Weckla“. Und noch einen Glühwein. Zufrieden mit sich beobachtete er das Markttreiben. Geradeaus, zwanzig Meter entfernt, sah er den Schönen Brunnen. Dort standen viele Besucher. Jeder wollte an dem goldfarbenen Messingring drehen und sich etwas wünschen. Kindersegen sollte das bringen. Touristen! Der Eisenring, auf der anderen Seite des Brunnens, der war der Richtige.

Wolfgang erinnerte sich an vergangene Zeiten. Wie er zusammen mit seiner Mutter über den Markt lief. Auch sie drehte am Ring. Natürlich am Eisernen.

   »Was hast du dir gewünscht? «, hatte er gefragt.

   »Dasd net a so werst wie dei Vadder« lautete ihre Antwort.

   Wolfgang drehte sich um. Er wollte auf andere Gedanken kommen. Nur wenige Meter entfernt stand ein Mann in einem Weihnachtskostüm. Sein Gesicht bedeckte ein weißer Rauschebart. Hin und wieder wandte der Mann seinen Kopf. Es schien Wolfgang, als sehe er direkt in seine Richtung und beobachtete ihn. Aber das war bestimmt eine Täuschung. Eine Schar Kinder drängte sich um den Nikolaus. Auch keine schlechte Verkleidung sinnierte Wolfgang. Vielleicht eine Idee fürs nächste Jahr.

   Ein Japaner lenkte ihn ab. Mit dem Finger zeigte er auf die Sammelbüchse, drehte den Kopf und las die Aufschrift. Er redete aufgeregt auf seine Begleiterin ein. Offenbar erklärte sie ihm, was es mit der Büchse auf sich hatte. Der Japaner sah Wolfgang direkt in die Augen, nickte und schlug ihm mit der linken Hand auf die Schulter. Mit der rechten steckte er einen Geldschein in den Schlitz.

   Wolfgang lächelte pflichtbewusst. Aus den Augenwinkeln heraus hatte er einen Zwanzig-Euro- Schein gesehen.

Kaum waren die Japaner weiter gegangen, kamen andere. Sie schienen von ihrem Landsmann alarmiert worden zu sein. Alle nickten strahlend, alle zeigten sich spendabel.

   Wolfgangs Lächeln erstarb. Der Weihnachtsmann war wieder allein. Jetzt gab es keinen Zweifel. Dieser beobachtete ihn. Handelte es sich um einen verdeckten Ermittler? Seit der Terrorwarnung des Innenministers war man ja nirgends mehr sicher.

   Wolfgang trat einen Schritt zurück und entzog sich den neugierigen Blicken des Anderen. Er schwitzte. Als er vorsichtig um die Ecke lugte, konnte er niemanden mehr sehen. Ich sollte meine Nerven besser im Griff halten, schalt er sich. So oder so fand er es Zeit, den Standort zu wechseln. Weiter ging es vorbei an Ständen mit Christbaumschmuck, Zwetschgenmännle und Wollkleidung.

   »Herr Pfarrer, eine Mütze tät Ihnen nicht schaden«, pries eine Verkäuferin ihre Ware an.

   Er blieb stehen. Die Frau ähnelte seiner verstorbenen Mutter. Sie trug eine Blümchenschürze über ihrem Mantel. Graue Haarbüschel lugten unter einer roten Wollmütze hervor. Er öffnete den Mund. »Dasd ned so werst wie dei Vadder«, hallte es in ihm.

   »Ich…« Er schüttelte den Kopf und eilte weiter. Ohne nach links oder rechts zu schauen, ließ er den Christkindlesmarkt hinter sich und bog in die Engelsgasse ein. An deren Ende ging er rechtsherum in Richtung des Heilig Geist Spitals.  Von da lief er Richtung Königsstraße, die ihn geradewegs zurück zum Hauptbahnhof bringen würde.  

   Er erreichte die Lorenzkirche. Davor stand eine Gruppe Kinder und sang ein Weihnachtslied. Wolfgang interessierte sich nicht besonders für Musik und ging weiter.

   Er erstarrte. Wenige Meter vor ihm sah er wieder den Weihnachtsmann. Der wandte ihm den Rücken zu.

   Wolfgang drehte sich auf dem Absatz um. Dann doch lieber Musik. Die Stimmen der Kinder klangen dünn und schrill. Schnell lief er an ihnen vorbei. Ein junger Mann dirigierte. Die Augen der Kinder folgten Wolfgang, genauso wie die kleinen Atemwölkchen aus ihren Mündern.

   Er wagte nicht, sich umzudrehen. Sein Rücken brannte. Dann hielt er es nicht mehr aus. Verstohlen blickte er über seine Schulter. Dabei geriet er ins Straucheln. Er stürzte! Und die Büchse schepperte zu Boden.

   Passanten sprangen herbei und halfen ihm aufzustehen.  

»Geht es Ihnen gut, Hochwürden? «, fragte der Dirigent, der zu ihm eilte.

   »Alles in Ordnung«, hauchte Wolfgang. Nichts war in Ordnung. Den Weihnachtsmann konnte er nicht mehr entdecken. Aber dafür etwas Schlimmeres. Ein Chorknabe trat auf ihn zu und hielt ihm seine Büchse entgegen.

   »Die ist heile geblieben.«  Der Junge sah ihn mit großen Augen an. Er trug ein Pappschild. Es bedeckte seinen ganzen Oberkörper. Mit schwarzer Wachskreide stand ungelenk   »Waisenhaus Zenn« darauf geschrieben. Das Wort Waisenhaus mit größeren Buchstaben als Zenn.   

   »Die… die… ist für Euch und euer Heim«, stotterte Wolfgang. 

   Er drückte dem Jungen die Dose in die Hand.»Alles für Euch.«

Dann suchte er das Weite.

   Am Abend saßen die Waisenkinder in einem Zug.

   »Warum hast du nur Zenn auf das Schild geschrieben? Es heißt doch Langenzenn«, fragte einer den Jungen.

   »Weil es nicht mehr draufgepasst hat. Da musste ich abkürzen.«

   »Komisch. Genauso hat es der Pfarrer gekürzt.«, sagte ein anderer.

   »Einhundertundsechzig«, schrie einer weiter vorne im Waggon. Dort zählten sie unter der Aufsicht ihres Leiters zum wiederholten Male den Inhalt der Sammelbüchse.

   Unweit des Bahnhofs, in einer kleinen, spartanisch eingerichteten Wohnung, saß zur gleichen Zeit Wolfgang Frey. Er trank Leitungswasser und löffelte eine Dose mit Erbseneintopf, die er zuvor im Supermarkt eingekauft hatte. Auf der Garderobe im Flur lag die Soutane. Zusammengefaltet und verpackt. Morgen würde er sie ausliefern. Er war, trotz allem mit sich im Reinen. Sein Blick streifte das Bild seiner Mutter. Gleich, nachdem er nach Hause gekommen war, hatte er es aus der Schublade geholt. Dort lag jetzt das Bild seines Vaters.

 

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© Michael Kress