Michael Kress
Michael Kress  

Schon mal aufgeräumt?

Hier folgt augenzwinkernd ein Vorschlag, der fast ein bisschen zu weit geht. Denn Bücher entsorgt man nicht. Aber er zeigt auch, dass wir selbst bestimmen können, wer oder was uns bestimmt.

 

Die Geschichte ist aus meinem Kurzgeschichtenband "Blicke in den Spiegel - Geschichten wie gemalt" entnommen.

 

 

                Befreiung

 

  

 

 

   Bernd Loose saß in seinem Arbeits- und Bücherzimmer. Auf dem Schreibtisch lagen zwei neue Bücher. Das eine war ein dicker Mittelalterkrimi, das andere ein Ratgeber zur Lebensgestaltung. Beide Bücher teilten ein Schicksal – es gab keinen Platz mehr in den Regalen. Kreuz und quer standen da Bücher, dazwischen lagen Zeitungsausschnitte und Magazine.

   Ratlos betrachtete Bernd die Bücherwand. Sie war vier Meter lang und zwei Meter hoch. Einst stand mittig ein Modell der GORCH FOCK, doch hatte das längst dem Ansturm der Bücher weichen müssen. Einige der Regalbretter bogen sich bedrohlich durch. Mit einem Seufzer, aus den tiefsten Niederungen seiner Seele, sah er ein, dass die Zeit gekommen war, einen längst gefassten Plan umzusetzen. Ausmisten, hieß das Schlagwort!

   In der Abstellkammer galt es zunächst die Umzugskartons freizuräumen. Erst wuchtete er die Getränkekisten heraus, die Koffer folgten und am Ende die Biertischgarnitur. Das kostete ihn die ersten Schweißtropfen und dank einer Staubwolke einen Hustenanfall. Endlich hielt er einen Karton in der Hand. Im Begriff, die Abstellkammer zu verlassen, hielt er in der Bewegung inne. Nein, ein Karton allein würde niemals ausreichen! Er zog weitere Kartons hervor und ließ den Rest frei zugänglich. Man konnte ja nicht wissen.

   Vor den Regalen baute er einen ersten Karton auf. Durch das linke Fenster sah er die Sonne, die, orange leuchtend, feierlich ihren Aufgang abschloss. Bernd würde sie am Abend durch das rechte Fenster untergehen sehen und zwischenzeitlich den Raum kaum verlassen. Er ahnte nicht, was ihm bevorstand. Er hatte ja nur ein Steinchen ins Rollen gebracht, wer dachte da gleich an eine Lawine.

   In der oberen Reihe des ersten Regals wurde er nicht fündig. Nein, Karl May sollte kein Opfer des Ausmistens werden! Langsam glitten seine Finger die Bücherrücken entlang. An einem Buch mit rot-grünem Einband hielt er inne. Er las den Titel: »Plane Dein Leben mit Gewinn«. Der Titel kam ihm bekannt vor. Ja richtig! Genau das war der Titel des neuen Buches, das auf dem Schreibtisch lag. Nur war es nicht so verstaubt wie dieses. Er griff das Buch heraus und nahm es mit zum Tisch. Eine Überprüfung ergab, dass beide Bücher die fünfte überarbeitete Ausgabe darstellten. Bernd wollte lauthals lachen, ließ es jedoch bleiben. Einen Moment schien ihm, als ob die Bücher ihn auslachten. Insbesondere die vielen Ratgeberbücher, die sich zahlreich in der Masse versteckten. Euch geht es jetzt an den Kragen! dachte er entschlossen. Zunächst nahm er das ältere der beiden Bücher und legte es mitsamt den Lesezeichen in einen Karton. Schon stand er mit einem Bein auf dem Stuhl, um sein Werk fortzuführen, als ihm schlagartig bewusstwurde, was er weiter tun musste. Und so wanderte das zweite Exemplar von »Plane Dein Leben mit Gewinn« auch in den Karton. Geschafft!

   »Ich plane ab sofort selbst!«, verkündete er mit Inbrunst.

Schnell fand er die nächsten Opfer. Titel wie: »Iss Dich schlank«, »Der Wille verbrennt das Fett« und »Genießen ohne Aufzugehen« wanderten in den Karton. Ein selbstkritischer Blick auf seinen Bauch half, um zu erkennen, dass er keine Diät benötigte.

   Weiter ging es! »So werden Sie glücklich« und »Menschenkenntnis leicht gemacht« fanden ebenfalls ihren Weg in den Karton. Es folgten »Treue«, »Planen Sie Ihr Leben in sechs Schritten« und »Miteinander lachen und weinen«. Reihe um Reihe ging er durch, kein Ratgeber durfte auf Milde hoffen. Der zweite Karton kam an die Reihe. »Disziplin = Erfolg, Erfolg = Reichtum« bildete die Unterlage für »Motivation«, »Erfüllte Partnerschaft«, »Die ultimative Glücksformel« und »Ja!«. Buch um Buch verließ das Regal und fand bereitwillig Aufnahme in einem Karton.

   Die Stunden vergingen. Einmal kurz auf die Toilette, später zwischendurch ein Salamibrot gegessen. Am Ende der Regale angekommen, betrachtete er voller Genugtuung das Resultat seines Tuns. Gleich Zahnlücken wies nahezu jedes Regal freie Stellen auf. Trotzdem wurde deutlich, dass weitere Maßnahmen nötig waren. Dort lagen Bücher schräg im Schrank, weil sie ihre Stützen verloren hatten, hier bog sich nach wie vor das Regalbrett, weil an dieser Stelle keine Entlastung stattgefunden hatte. Hinter ihm standen vier volle Kartons.

   »Nun denn«, sprach er sich selbst Mut zu. »Jetzt wird sortiert!«

  Er schob die Kartons beiseite, der festen Überzeugung, sie nicht mehr zu benötigen.

   Weit gefehlt!

  Welcher Gestalt sollte die Ordnung sein? Nach Alphabet schloss er sofort aus. Sachbücher und Romane wollte er trennen. Nach Genre! Historische Romane bildeten die Mehrheit, dazu waren Seeabenteuer in Flottenstärke vertreten. Wieder ging Bernd die Reihen durch. Bald hielt er einen Science-Fiction-Roman in den Händen. Hatte er jemals einen Science-Fiction-Roman gelesen? Der musste von Sandra gewesen sein. Oder von Charlotte? Die Kartons kamen erneut ins Spiel. Klar, die Spuren von verflossenen Liebschaften sortierte er aus. Einem Nest von Konsalik begegnete er auf die gleiche Weise. Die Bölls und Hemingways durften bleiben und fanden zusammen. Die Karl Mays fanden ebenfalls zueinander. Simmel wiederum erlitt das gleiche Schicksal wie Konsalik. Graham Greene wollte er behalten. Bei ihm fand er einen Titel, der noch eingeschweißt war. Schuldbewusst packte er das Buch aus und reihte es fein säuberlich in das Regal. Er würde es noch lesen. 

   Ha! Harry Potter von Ute! Mit Schrecken erinnerte er sich an die Abende im Bett, als Ute ihm Harry Potter vorgelesen hatte. Es war eine Mischung aus Vorlesen und Philosophieren gewesen, die er anfangs geduldig, später mit zunehmendem Ärger ertragen hatte. Im Bett wollte er nicht über einen Zauberlehrling diskutieren, da stand ihm der Kopf nach anderem. Und nun hielt er ein Exemplar des Ärgernisses in den Händen. Da war noch ein Potter, und noch einer. Nein, diese Bücher, sie mochten gut sein, würde er nie mit Genuss lesen können. Er wollte nie mehr mit Harry Potter Bett und Freundin teilen müssen.

   Spät am Nachmittag saß er erschöpft inmitten der Kartons. Die Regale waren aller losen Zeitungsausschnitte und Magazine entledigt und viele Stellen waren bereit, neue Bücher aufzunehmen. Ein Blick auf die unzähligen Kartons entlockte Bernd einen Seufzer. Er musste alle in den Keller schaffen und die Abstellkammer musste wiederhergestellt werden. Nach einer knappen Stunde war der letzte Akt erledigt.

   Mit sich selbst im Reinen, saß er am Schreibtisch. Die Sonne hatte ihr Tagwerk verbracht und versank als feuerroter Ball am Horizont. Zur Belohnung schenkte sich Bernd einen trockenen Rotwein ein. Einen Augenblick hing er in der Dämmerung unbestimmten Gedanken nach, als ihn der Einfall ereilte. Er knipste die Schreibtischlampe an und nahm einen DIN-A4-Block aus der Schublade. Aus der Schachtel mit den Stiften griff er einen schwarzen Stift, tauschte diesen durch einen roten Fineliner. Rot schien ihm die passendere Farbe. Schnell schrieb er ein paar Worte auf und las das Geschriebene. Dort stand:

 

Befreiung

Wie Sie sich freimachen von Ballast

Ein Ratgeber von Bernd Loose

 

 

 

 

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