Eine Liebe zu bewahren ist ungleich schwerer, als sie zu finden. Eleonore hat sich entschieden, doch geben weitere Verehrer nicht auf. Fritze, der Waisenjunge, der ihr ans Herz gewachsen ist, gerät in Gefahr. Das stellt alles andere in den Schatten. Auch die Revolution und die verzweifelteten Bemühungen, gewonnene Freiheiten zu bewahren..
1.Wohin die Wege uns führen
Stuttgart
Oktober 1848
Eleonore Herbst sah das Vergangene so klar, als sei es erst geschehen. Die Zukunft dagegen lag hinter einem Schleier verborgen. Sie saß vor ihrer Kommode, die Eugen, ihr Hausdiener, zu einem Sekretär umgebaut hatte. Der neue Aufbau wies hinten mehrere kleine Laden auf. Eine Schreibplatte ragte hervor. Auf ihr stand ein Tintenfässchen mit Schreibkiel, lagen etliche Papiere und stapelweise Briefe, zuunterst ein Brief von Bettina von Arnim, ihrer Freundin aus Berlin. Dort gab es ein Vielfaches an Elend wie in Stuttgart. Arbeitshäuser und dunkle, feuchte Mietshäuser, Armut an allen Ecken. Bettina kämpfte unermüdlich für mehr Gerechtigkeit und Menschenliebe, und Eleonore war ihre Mitstreiterin geworden. Sie hatte den Brief überflogen.
Der Tod ihrer Mutter lag gerade mal zehn Monate zurück. Ihr kam es vor, als seien es Jahre gewesen. Da war die Reise nach Berlin gewesen, wo sie auf William und Friedrich Euskirchen getroffen war. Friedrich, der Ältere, hatte ihr gleich den Hof gemacht, wohingegen William ihr anfangs reserviert begegnet war. Heute stand er ihr so nahe.
Bevor sie die Brüder kennengelernt hatte, war der von Ehrgeiz zerfressene Leutnant August von Engel ihr Verehrer gewesen. Alles schien vorbestimmt. Sein Werben um sie war für ihn zur Manie geworden und hätte beinahe in einer Katastrophe geendet. Er hatte auf sie und William auf dem Cannstatter Volksfest schießen lassen, als sie oben im Weidenkorb des Gasballons standen. Niemand war zu Schaden gekommen, aber von Engel war aus der Garde des Königs verbannt und strafversetzt worden. Der König selbst, sagte man, habe dies verfügt. Er duldete ihn nicht mehr in seiner Nähe. Die Freundschaft, die ihr Vater zum König unterhielt, hatte dazu beigetragen.
Sie glättete einen Zeitungsausschnitt, der vor ihr lag. Das Blatt zeigte ihren William, im Hintergrund den Gasballon. Der Zeichner hatte William gut getroffen, sogar dessen Narbe über dem linken Auge angedeutet. William haderte damit, Gefahren heraufzubeschwören. Die Narbe, Folge eines Säbelhiebs, mahnte ihn. Das war in den Vereinigten Staaten gewesen, ein Jahr, bevor er zurück nach Deutschland gekommen war. Ich kämpfe mit Worten, war seine Maxime.
In Berlin hatte er versucht, beschwichtigend auf die Arbeiter einzuwirken, hatte ihnen geholfen, gehört zu werden. Dennoch war es zu Barrikadenkämpfen gekommen. Eleonore dachte an Williams Verzweiflung und Tatkraft, als sie ihn in einem notdürftig als Lazarett eingerichteten Nonnenkloster angetroffen hatte. Clara, ein Dienstmädchen, war ihm zur Seite gestanden. Später hatte er Clara und sie in einem Boot über die Spree in Sicherheit bringen wollen. Das Dienstmädchen war zu Tode gekommen, was William schuldig fühlen ließ. Sie schauderte. Die tödliche Kugel hätte sie treffen können.
Zuletzt hatte ihre abenteuerliche Gasballonfahrt bei William zu Selbstvorwürfen geführt. Sie waren danach ein Paar geworden, hatten einander geliebt, als gäbe es kein Morgen. Eleonore wurde heiß bei der Erinnerung.
Sie stand auf und trat hinaus in den Flur. Es war still. Sie ging hinunter, wo Fritzes Zimmer lag. Der Waisenjunge, eine stete Erinnerung an ihre Reise nach Berlin, war ihr ans Herz gewachsen. Aus der Küche zog Bratenduft. Ein Zeichen, dass die Essenszeit nahte. Und damit William, den ihr Vater eingeladen hatte. Es gibt manches zu besprechen, hatte er ihr dazu gesagt.
Eleonore klopfte an die Zimmertür des Jungen.
»Ja«, hörte sie.
Sie trat ein. Fritze saß auf dem Teppich, um ihn herum lagen etliche Ausschnitte aus Zeitungen. Sein linker Beinstumpf stak in einer Baumwollkappe.
»Det is’n Ding. Euer Korb hätte kippen und ihr in die Tiefe stürzen können. Ick hab’ alle Bilder jesehen.« Fritze plapperte munter drauflos.
Eleonore schmunzelte. »Es war nicht ungefährlich, aber nicht so dramatisch, wie berichtet wird.«
Der Junge plapperte weiter und sie hörte halbherzig zu. Eine Frage kreiste in ihrem Kopf. Was will Vater mit William besprechen? Geht es um unsere Liebe?
»Wie haste det alles jeschafft?«, fragte Fritze.
»William war mir eine Stütze.«
»Friedrich hätt’ dir ooch jeholfen.« Der Junge runzelte seine Stirn. »Auf dem Bett liegt eine neue Zeichnung, kannste gucken.«
Eleonore trat an das Bett. Da lagen Stifte und Papier. Friedrich und der Junge, beide leidenschaftliche Zeichner und beide wahre Meister.
Die Haustürglocke läutete und gleich darauf vernahm Eleonore Stimmen. Es war William. Sie unterdrückte den Impuls, Fritze zu verlassen. Der sah sie erwartungsvoll an. Das Bild, das er gezeichnet hatte, zeigte ebenfalls einen Gasballon. In der Gondel standen eine Frau und ein Mann dicht beisammen.
»Du liebst William«, sagte Fritze.
»Mehr als ich je einen Mann geliebt habe«, gestand sie ein. Im Haus war es still geworden. Warum kommt William nicht gleich zu mir?
»Ich vermisse Friedrich«, sagte Fritze.
»Das kann ich verstehen«, sagte sie und hielt inne. »Er ist kein böser Mensch.«
Zumindest in seinem Innern trägt er ein gutes Herz.
»Den ollen Leutnant hat er vertrieben«, fuhr Fritze fort. »Der König hat och Friedrich weggeschickt. Warum?«
»Könige mögen es nicht, wenn man ihnen Vorwürfe macht. Und Friedrich hat gezeichnet, wie auf uns geschossen wurde. Von Soldaten des Königs.«
»Werde ich Friedrich wiedersehen?«
Eleonore lächelte. »Ja, wenn erst einmal Ruhe eingekehrt ist. Lass deine Fingernägel sehen, bevor du von Maria Schimpfe bekommst.«
Bald saßen sie alle am großen Esstisch zusammen. William hatte sie kurz begrüßt. Das Essen verlief größtenteils schweigend. Mit am Tisch saß Eugen, ihr Hausdiener, der wie Maria seit Jahren zur Familie gehörte und für die Kutsche, die Pferde und alles andere zuständig war, was Maria, ihre treue Haushälterin, nicht erledigen konnte. Beide hatten Fritze mit offenen Armen begrüßt. Der Junge verbrachte viel Zeit in der Werkstatt Eugens oder half Maria bei der Hausarbeit.
William saß ihr gegenüber, ernst und still. Was bedrückte ihn? Und was ihren Vater, der heute kaum sprach?
Nach dem Essen standen beide auf und gingen nach oben. Eleonore sah ihnen nach.
Eugen nahm den Jungen mit in seine Werkstatt und Eleonore half Maria in der Küche.
»Männer hen immer ebbes zu besprechen«, sagte Maria. »Und hecken ebbes aus. Do bischt manches Mal machtlos.«
Weiß Maria, worüber die Männer sprechen?
Sie wollte nachfragen, doch die Haushälterin tat geschäftig, so dass keine Unterhaltung zustande kommen wollte. Eleonore half ihr beim Abwasch und als sie fertig waren, eilte sie nach oben. Die Tür zu Vaters Arbeitszimmer stand einen Spalt offen.
»So kann es nicht weitergehen«, hörte sie ihren Vater sagen.
»Da stimme ich zu«, sagte William.
Sie blieb mit pochendem Herzen stehen. Was kann nicht weitergehen? Eleonore nahm allen Mut zusammen und trat ein. Williams Miene war ernst.
»Schlimme Nachrichten aus Wien«, begrüßte sie ihr Vater. »William hat neue Journale mitgebracht. Im österreichischen Kaiserreich streben die Ungarn nach Freiheit, in Wien haben Soldaten Befehle verweigert, wonach sie gegen die Aufständischen in den Kampf ziehen sollten. Stattdessen haben sie mit rebellierenden Studenten Freundschaft geschlossen. Eine Meute hat den Kriegsminister Latour totgeschlagen.«
Eleonore atmete tief durch. Die beiden sprachen über Politik.
»Der Kaiser hat Wien verlassen, mit ihm die bürgerliche Oberschicht, und sendet als Ersatz seine Armee, hauptsächlich Kroaten, wie man liest, zur Besänftigung. In Baden hat ein gewisser Gustav von Struve die Republik ausgerufen, seine Freischar, kaum eintausend Mann, wurde bei Staufen zerschlagen. Er sitzt in Haft, wohingegen man von Friedrich Hecker liest, er sei endgültig nach Amerika ausgewandert.«
Eleonore horchte auf, als Vater von Amerika sprach. Würde das ihre Heimat werden, wenn sie mit William zusammenblieb? Oder lag ihrer beider Zukunft in Deutschland? Da waren sie wieder, die Nebelschleier.
»Uhland schreibt«, fuhr ihr Vater fort, »in Frankfurt habe das Paulskirchenparlament mit großer Mehrheit die Fürstenformel Von Gottes Gnaden gestrichen. Der preußische König soll wirsch reagiert haben. Es wird keinem unserer gekrönten Häupter gefallen.«
Ebenso wenig Friedrich, der auf der Seite der Herrschenden steht und als Agent tätig ist, dachte Eleonore Noch weniger August von Engel, der auf seinen Adelstitel stolz ist. Was kümmerte sie das? Er war ein für alle Mal aus ihrer Umgebung verbannt. William würde die Abkehr von der göttlichen Fügung gutheißen. Niemand auf Erden sei göttlich, hatte Ludwig Uhland gesagt. Er war Dichter, ein Studienfreund ihres Vaters, und Abgeordneter in der Frankfurter Paulskirche. In langen Briefen berichtete er ihrem Vater, der so manches erfuhr, was nicht in den Zeitungen stand.
»In Berlin herrsche eine trügerische Ruhe, berichtet Bettina in ihren Briefen«, erzählte Eleonore.
Beide Männer schätzten Bettina von Arnim, die in Berlin einen Salon betrieb und sowohl in bürgerlichen wie in fürstlichen Kreisen Anerkennung fand. Und Neider. Darum wagte es Bettina nicht, ein zweites Armenbuch herauszubringen. Das erste, betitelt mit Dies Buch gehört dem König, hatte Aufsehen erweckt und Eleonore den Weg gewiesen, zu den Familienhäusern in Berlin, zu Fritze und zu Williams Herz. Ihm lag wie ihr am Los der einfachen Menschen. Konnte sie selbst ein Buch veröffentlichen? Ihr Kopf war voll mit Ideen, zur Linderung der Armut, und Bettina hatte landesweit dazu aufgerufen, von den Nöten der Bevölkerung zu berichten. Diese Unterlagen lagen jetzt in Eleonores Kommode, zusammen mit ihren eigenen Notizen.
»Die Fabrikarbeiter leiden Not. Es sind raue Gesellen, manch einer von ihnen neigt zum Hitzkopf.« William sah sie an.
Eleonore dachte an Clara, und sie spürte, dass William ebenfalls an sie dachte.
»Du hast getan, was möglich war, um manche zu beruhigen.«
William wusste um ihr Buch. Sie war kurz davorgestanden, es zu veröffentlichen, als sie dann der Verleger mit einer aberwitzigen Forderung konfrontierte. Sie solle heiraten, damit das Buch unter dem Namen ihres Gatten veröffentlicht werden konnte. Frauen schrieben Kochbücher oder erbauliche Romane über tugendhafte Frauen, keine Bücher zu ernsten gesellschaftlichen Themen, hatte der Verleger weiter ausgeführt. Das sei allein Sache der Männer.
»Lasst uns einen Moment die große Politik vergessen«, sagte ihr Vater. »Wir konnten Fritze aus seinem Elend reißen.«
»Er ist mir wie ein Sohn«, sagte Eleonore.
»Ich möchte, dass er in eine Schule geht. Bei uns hat er Umgang mit Erwachsenen. Er muss mit seinesgleichen in Kontakt kommen. Neue Freundschaften schließen.«
»Das wäre fein.«
»Ich habe mit dem Direktor des Stuttgarter Waisenhauses gesprochen. Fritze soll als Externer am Schulunterricht teilnehmen. Eugen wird ihn täglich hinbringen und abholen|.«
»Eine gute Idee«, sagte William.
Ihr Vater räusperte sich. »Ich habe über euch nachgedacht.«
Eleonore hielt die Luft an, ihr Herz raste. »Ich liebe William«, sagte sie.
»Und ich liebe Eleonore«, ergänzte William.
Ihr Vater schmunzelte. »Was mir nicht verborgen geblieben ist. Es muss alles seine Ordnung haben. William wird bei Böttcher Vogt eine Kammer beziehen. Der ist froh, ein wenig Gesellschaft zu bekommen, und obendrein verdient er dabei.« Er runzelte die Stirn und blickte ernster drein. »Du und William werdet euch immer in Gesellschaft anderer begegnen, bis es schicklich ist, bis ihr verlobt seid.«
»Verlobt?« Eleonore schluckte.
»Ein wenig müsst ihr euch gedulden. Es steht eine weitere Verbindung ins Haus.«
»Was?«
»Ich möchte, dass Eugen und Maria heiraten. Sie sollen für Fritze die Vormundschaft übernehmen, ihm richtige Eltern sein. Es ist schön anzusehen, wie der Junge in ihrer Gesellschaft gedeiht.«
»Ich wusste nicht …« Eleonore brach ab. Dass die beiden einander liebten, war ihr entgangen. Welch ein Glück für den Jungen, das beide heiraten würden. Schon heute umsorgten sie ihn, als sei er ihr leibliches Kind.
»Das mit der Hochzeit soll eine Überraschung werden. Sie passen zusammen, und mit dem Jungen bilden sie eine richtige Familie. Ihr werdet eigene Kinder haben.«
Was mein Vater alles einfädelt.
»Mit Fritze hast du wegen der Schule gesprochen?«, fragte sie.
»Hmmh«, machte ihr Vater. »Ich dachte, dass du mit ihm darüber redest.«
Eleonore trat näher an William, nahm seine Hand. »Das werde ich machen. Ich gehe gleich zu ihm.« Sie schluckte. »Ich danke dir.«
Der Junge saß in seinem Zimmer am Tisch. Vor ihm lag ein Buch und er fuhr mit seinem Zeigefinger die Zeilen entlang.
»Was liest du da?«, fragte sie.
»Von einem dummen Jungen.«
Sie nahm neben ihm Platz.
»Aha, ein Kinderbuch«, neckte sie ihn.
»Zum Lesen lernen taugt es allemal.« Er hielt inne. »Ick kann nich globen, dat jemand Essen wegwirft.«
Eleonore erfreute Fritzes Eifer. Er las im Struwwelpeter, einem Buch, das sie in Frankfurt gekauft hatte. Heinrich Hoffmann, ein Arzt und Psychiater, hatte das Buch für seinen Sohn geschrieben und dazu passende Bilder gemalt. Es enthielt Geschichten zur Mahnung, so über einen Jungen, der mit Scheren spielte und zur Strafe die Finger abgeschnitten bekam. Aufgeschlagen war die Geschichte des Suppenkaspers.
»Es zeigt Kindern, dass Essen wertvoll ist, egal wie es schmeckt.«
»Ick hatte nie genug, um es wegzuwerfen.«
»Das weiß ich, Fritze, das weiß ich.« Eleonore kam eine Idee. »Du kannst mir aus den Zeitungen vorlesen.«
Er strahlte. »Keene Politik. Lieber die Annoncen.«
Sie schmunzelte. »Ja, die olle Politik. Lass uns mal sehen.«
Der Junge griff nach einer anderen Zeitung und blätterte darin, bis er die Anzeigen fand.
Fritze begann vorzulesen: »Es ging … gestern Abend … ein kleines Hündchen … ungefähr ein halbes Jahr alt … verloren.« Er zog mit einem Finger den Text entlang, stockte manchmal, dennoch war unverkennbar, dass er Fortschritte machte. Ihr Vater hatte den gleichen Hauslehrer engagiert, der ihr einst das Lesen beigebracht hatte.
»Es hört auf den Namen … Ali. Der red…liche Finder wird gebeten, das…selbe gegen eine gute Belohnung bei Herrn Kürschner … in der Kronprinzstraße Nr. 1 b abzugeben.«
Fritze legte die Zeitung weg. »Eugen soll mit mir suchen gehen!«
»Das Hündchen ist längst gefunden worden.« Eleonore nahm selbst die Zeitung zur Hand und suchte die Stelle, die sie zuvor gesehen hatte. »Hör das mal: Gestern Abend ist in der Neckarstraße, nahe des Wagnerschen Hauses, eine Vorstecknadel verloren worden, welche Veilchen von Emaille mit goldenen Blättern vorstellt. Der Finder wird ersucht, solche gegen angemessene Belohnung abzugeben. Neckarstraße Nr. 7, über zwei Treppen.«
Sie lachten beide. Fritze wurde mit einem Male ernster.
»Ick vermisse Berlin«, sagte er.
Eleonore presste ihre Lippen zusammen. In Berlin hatte Fritze in der Gosse gesessen, hatte gefroren, wenn es kalt war, Durst, wenn die Sonne schien. Sein Vater, alkoholkrank, hatte die Familie ins Arbeitshaus gebracht, wo sie unter Kriminellen und gescheiterten Existenzen wohnen mussten. Wie konnte er das vermissen? Fehlten ihm seine Freunde?
»Und ick vermisse Friedrich«, fuhr der Junge fort.
»Wenn ich könnte, würde ich deine Freunde aus Berlin holen. Ich denke wie du oft an Berlin, an dein altes Zuhause und an Frau von Arnim.«
»Und Friedrich?«
»Wir wissen nicht, wohin er gegangen ist.« Eleonore grübelte. »Es heißt, er sei nach Sigmaringen gereist, wo das Stammschloss der Hohenzollern steht.«
»Bestimmt malt er dat. Er kann gut zeichnen. Nich nur olle Köppe.«
»Fast so gut wie du«, sagte Eleonore. »Die anderen Kinder werden staunen.«
»Welche Kinder?«
»Du wirst in eine Schule gehen. In Stuttgart, im Waisenhaus. Da lernst du fürs Leben.«
»Ick hab ja alles, wat ich benötige«, sagte Fritze und blickte umher. »Muss ich ins Waisenhaus ziehen?«
»Niemals, Fritze, werden wir dich abschieben. Hier ist dein Zuhause. Bei uns. Du wirst neue Kameraden kennenlernen.«
»Hmm«, machte er.
***
Das Gewitter tat ein Übriges, um August von Engels schlechte Laune zu steigern. Das Wasser lief in Sturzbächen die Wagenfenster hinunter, und grollender Donner, gefolgt von grellen Lichtblitzen, war ihr steter Begleiter. Offenbar sah der Kutscher die Straße unzureichend, denn der Wagen riss hin und her, fuhr in jedes Schlagloch. Sein Kopf schlug gegen die Decke und er sank seufzend zurück. Dagegen war die Fahrt mit der Eisenbahn eine Wohltat gewesen. Am Bahnhof Asperg hatte ihm der Bahnhofsvorsteher den Wagen vermittelt. Zuerst war ihm die Mitfahrt auf einem Gefangenentransport angeboten worden, einem hohen, vergitterten Wagen, der zwei neue Häftlinge auf den Berg bringen sollte. Er hatte entrüstet abgelehnt. Zumal der Unteroffizier, der die Eskorte befehligte, das Ende des Unwetters abwarten wollte. Das hatte just eingesetzt, als August mit dem Zug angekommen war. Die Soldaten der Eskorte, insgesamt zwölf Mann, lungerten im Bahnhofsgebäude herum und boten ein Bild der Disziplinlosigkeit. War es das, was ihn erwartete? Da er einen großen Regenumhang getragen hatte, hatten sie ihn nicht als Offizier erkannt. Sie würden ihn bald kennenlernen. Den Umhang hatte er ausgezogen, weil er ihn so einengte. Er hatte ihn auf die Sitzbank gelegt, von der er mittlerweile heruntergerutscht war. Darum sollten sich andere kümmern.
Der Wagen kam zum Stehen und jemand riss die Tür auf. Eine Gestalt leuchtete mit einer Laterne in die Kutsche hinein.
August hielt eine Hand schützend vor seine Augen.
»Wer ist da?«
Der Wind peitschte Regen in den Wagen und er wich ein Stück zurück. Der Soldat senkte seine Laterne, erkannte die Uniform und fuhr erschrocken zurück, salutierte unbeholfen.
»Sie waren nicht angekündigt, Herr Leutnant.«
»Lassen Sie uns passieren«, blaffte August, untermalt von donnerndem Grollen.
Der Wachmann salutierte erneut.
»Tor auf!«, hörte August ihn brüllen.
Er sank in die Polster zurück. Seine Füße stießen gegen die gegenüberliegende Sitzbank. Seufzend rückte er näher an das Fenster heran und spähte hinaus. Der Wagen fuhr in eine schmale, von hohen Mauern begrenzte Auffahrt hinein. Alle paar Meter leuchtete matt eine Laterne in einer Nische. Das Geklapper der Hufe hallte von den Mauern zurück. Sie verließen den Hohlweg, erreichten eine Anhöhe und bogen nach rechts. Vor ihnen erschien ein Turm mit einem weiteren Tor. Schaukelnd fuhren sie darauf zu. Ein Blitz brach zuckend durch die Wolken. Soldaten in regennassen Umhängen öffneten die Flügel des Tors. Der Weg führte unterhalb des Turms hindurch. Das Klappern der Hufe donnerte von den Wänden. Sie erreichten einen weitläufigen Innenhof. Der Kutscher lenkte nach links und hielt vor einem Gebäude. Ein Mann lugte aus einer Tür heraus. Bewaffnet mit einem Regenschirm, eilte er heran und öffnete die Wagentür.
»Herzlich willkommen, Herr Leutnant.«
August knurrte und stieg aus. Wenigstens einer, der ihn erwartete. Der Fremde trug Zivilkleidung und nahm ihn mit seinem Regenschirm in Schutz.
»Ein scheußliches Wetter«, plapperte er. »Wenn Sie mir folgen wollen.«
»Warum empfängt mich kein Offizier?«, fragte August. »Wer sind Sie?«
»Kramer mein Name. Ich bin Wirt der Kramerschen Stuben.«
August schluckte eine harsche Antwort herunter. Von einem Wirt wurde er empfangen. Unerhört!
»Das Mistwetter verleitet den ein oder anderen unserer Gäste, ich meine Insassen, schnell zu Fluchtgedanken«, fuhr der Wirt fort. »Die Wachen sind deshalb verstärkt worden, und eine Abteilung ist in Asperg, um neue Gäste abzuholen.«
Mitten auf der Treppe senkte sein Begleiter den Schirm und Wasser lief auf August herab. Er holte Luft, wollte den Wirt anfahren, hielt inne. Ein Wirt konnte ihm nützlich werden in den sechs Monaten, die er Dienst verrichten musste. Länger als die meisten Insassen, meist Untersuchungshäftlinge, und länger als die anderen Wachmannschaften, die alle drei Monate ausgetauscht wurden. Zur Bewährung, so der General. Alles lief seit Beginn der Revolution gegen ihn. Erst war ihm Eleonore abhandengekommen und nun lief er Gefahr, nicht befördert zu werden. Als Mitglied der königlichen Garde und mit den Beziehungen, die Eleonores Vater zum König pflegte, hatte er gehofft, in absehbarer Zeit Hauptmann zu werden. Das lag in weiter Ferne.
»Wir befinden uns im Kasernenbau«, erläuterte Kramer, als sie das Haus betraten. »Oben ist Ihre Wohnung.«
Im Flur wartete ein Hausknecht auf sie.
»Hol das Gepäck des Leutnants«, fuhr ihn Kramer an. »Da, nimm den Schirm. Dass die Sachen nicht nass werden!«
An August gewandt, sagte er: »Sie können erst einmal essen«, und trat zur Seite. »Ich hoffe, Sie beehren mich öfter in meiner Wirtstube. Einer wie der Affenwerner kommt nicht zu mir als Gast. Der kann meinetwegen ins Bartsche Wirtshaus gleich nebenan.«
»Sie meinen Gustav Werner, den Gastronom aus Stuttgart?«, fragte August.
»Genau den. Ohne seine wilden Tiere.«
Der Wirt brabbelte davon, dass sein Gepäck versorgt und ihn seine Kammer später warm empfangen würde. Er solle aber zunächst in der Wirtsstube eine Stärkung erhalten. Er hörte kaum zu. Eleonore war Gustav Werner verbunden gewesen und der Gedanke daran, dass sie ihn vielleicht besuchen würde, erregte ihn. Im Geiste sah er sie ihn anflehen, dem inhaftierten Wirt doch dieses oder jenes zu gewähren. Kramer öffnete ihm die Tür und August trat ein. Das war eine der drei Gaststuben, in der Gefangene zwanglos auf ihre Bewacher trafen, einträchtig mit ihnen zusammensaßen. Kritisch musterte er die wenigen Gäste, meist Zivilisten. Waren Arrestanten darunter, oder Besucher und zivile Angestellte?
Am hinteren Ende des Raums stand eine Theke. Er ging darauf zu. Die anderen Gäste sahen ihn an. Aus einer Tür, hinter der Theke gelegen, trat Kramer. Er trug eine Schürze und kam auf ihn zu.
»Herzlich willkommen!«, empfing ihn der Wirt, als sehe er ihn zum ersten Mal. »Ich lasse heißen Punsch bringen. Ich habe einen Fasan oder einen Rehbraten im Angebot. Hier entlang, bitte.«
August folgte zu einem offenen Kamin, wo ihm der Wirt einen Stuhl heranzog.
»Nehmen Sie Platz«, bat er.
»Danke«, murmelte August.
August streckte seine Füße aus. Er hatte ein Unterkommen. Ein Zurück in das Haus seiner Ahnen gab es nicht. Das gehörte Friedrich Euskirchen, der alle seine Schuldscheine aufgekauft und ihn damit unter Druck gesetzt hatte. Sollte er damit glücklich werden. Aber Eleonore gab er nicht verloren.
Eine Magd brachte ihm den Punsch.
»Ich möchte den Rehbraten! Und Rotwein, keinen billigen Fusel«, bestellte er.
»Sehr wohl, der Herr«, quiekte sie.
Sie ähnelte Kramer, mochte dessen Tochter sein. Die Zähne standen ihr schief im Mund. Ihr Gesicht war fleckig und verschwitzt. Das fängt ja gut an!
Das Essen brachte eine andere Magd. Jünger und ansehnlicher. Sie trug einen schwarzen Rock und eine Bluse, deren obere Knöpfe offenstanden. Hell schimmerte ihre Haut hervor. Sie hatte rotblonde Haare.
»Bitte schön«, sagte sie mit kehliger Stimme.
»Wie heißt du, Mädchen?«
Sie sah ihn ohne Scheu an. »Pauline.«
Er aß ohne Appetit und beobachte das Schankmädchen. Sie war gut gebaut, und nicht zurückhaltend wie Eleonore Herbst. Brütend aß er weiter.
2. Männer lassen sich totschießen
Stuttgart
Oktober 1848
Eleonore trat einen Schritt zurück und musterte Fritze, der vor ihr auf einem Stuhl saß.
»Die neue Hose steht dir gut«, sagte sie.
»Fesch sieht er aus, der Bua«, stimmte Maria zu, die mit Eugen links neben Fritze stand.
Der Junge hielt einen Spiegel in der Hand und musterte sein Ebenbild. Mit der rechten Hand fasste er an seine Halsbinde. »Die is eng und der Stoff juckt«, klagte er.
Eleonore fühlte, dass da mehr als das Kratzen der Halsbinde war, was ihm nicht behagte. Seine Angst war greifbar.
Sie trat an den Tisch. Da lagen Schulbücher, die heute vorbeigebracht worden waren.
»Du wirst viel lernen«, sagte sie. »Schau, mit diesem Buch wirst du zusammen mit deinen Mitschülern schnell lernen, wie man richtig schreibt, liest und sich ausdrückt.«
»Ick kann lesen.«
»Und schreiben?«
»Es reicht für dad, was ick brauche.«
Eleonore schluckte. Er sprach wie sein verstorbener Vater damals in Berlin. Unnützes Zeug, hatte der gesagt. Und was der Junge benötigte, das sei allein seine Sache. Der Vater war tot, und jetzt war es ihre Sache und die von Eugen und Maria. Sie sah beide an.
Eugen trat an den Tisch, nahm das Erdkundebuch hoch, begann darin umzublättern und murmelte vor sich hin. Eugen war nie ein Mann vieler Worte. Eleonore sah ihn an, wartete gespannt. Was hatte er vor? Fritze beobachtete ebenso den Hausdiener.
»Wenn des net der Affe vom Werner isch!«, sagte Eugen in die Stille. Er ging zu dem Jungen und zeigte ihm eine aufgeschlagene Seite.
»Sieht genauso aus. Isses aber nicht.«
Eleonore sah mit Freude, wie der Junge neugierig das Bild anblickte. Gustav Werner betrieb in der Stadt ein Gasthaus, in dem zahlreiche exotische Tiere lebten, Pfauen, Papageien und Affen. Daher nannte man die Gaststätte im Volksmund Affenwerner. Eugen war dort einige Male mit Fritze gewesen. Der Junge hatte manche Bilder gezeichnet. Der Wirt saß in Untersuchungshaft, weil man ihm zu viel Sympathie für revolutionäre Kreise vorwarf. Einer seiner Papageien habe den Revolutionär Hecker hochleben lassen.
»Mit dem Buch lernen die Schüler fremde, weit entfernte Länder kennen. In Indien oder in Ländern Afrikas leben Elefanten, groß wie eine Kutsche.« Eleonore hielt inne. »Im Unterricht macht ihr zusammen eine Weltreise, und niemand muss einen Koffer packen. Niemand muss schwitzen, obwohl es in Afrika heiß ist. Niemand muss frieren, wenn ihr über die Eisbären in der Arktis redet.«
Der Junge hatte mittlerweile Eugen das Buch aus der Hand genommen und blätterte selbst darin. Hin und wieder strich er mit den Fingern über eine Seite, als wolle er das Gesehene greifen.
»Der Halskragen passt. Ick gewöhn mich dran.«
»Morgen früh geht es los. Eugen wird dich hinbringen, und ich werde euch begleiten. Ich bin gespannt, wie es dir gefallen wird.«
***
William Euskirchen saß in seiner Kammer im Haus des Böttchers Vogt. Ein Bett, ein kleiner Tisch nebst Stuhl, das bildete die Einrichtung. Unterm Bettgestell ragte seine Seekiste ein Stück heraus. Nebenan hörte er, wie Vogt Holz bearbeitete, und vom kleinen Garten vernahm er das Gurren der Brieftauben. Er schmunzelte ob der Erinnerung an deren Botendienste.
Vor ihm lagen zwei Briefe. Einer stammte von seinem Verleger aus den Vereinigten Staaten. Ihm lagen Zeitungsauschnitte mit Williams Berichten bei. Sie waren weiter nach hinten gerutscht, was schwindendes Interesse seitens der Leser bezeugte. Dazu passte die Mahnung seines Verlegers, er solle mehr über das revolutionäre Geschehen berichten und weniger über die Lebensumstände der Bevölkerung. Das erführen die Ausgewanderten von den Briefen ihrer Familien. Und nicht aus Deutschland Stammende interessierte das, was in den deutschen Landen geschah, sowieso kaum. Es sei denn, es wurde aufeinander eingedroschen und es floss Blut. Im Übrigen gäbe es in Amerika einige Geschehnisse, die lohnender wären. Ein Fingerzeig, dass er zurückkehren sollte?
Der zweite Brief, mehr eine kurze Notiz, stammte von Robert Blum, einem Abgeordneten der Paulskirche. William war ihm einmal begegnet und offenbar hatte er einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Kommen Sie nach Wien, dort wird die Revolution entschieden! Hotel Stadt London. Deutschland soll frei sein wie Amerika. Kommen Sie!
William strich mit der Hand durch sein Haar. Er wollte Blums Ruf folgen, auch wenn er Eleonore eine Zeit lang verlassen musste. Er würde ihr jeden Tag einen Brief schreiben. Nebenan war es ruhig geworden, dafür gurrten die Tauben umso mehr. Er hörte, wie Vogt mit ihnen sprach. Konnte er ein paar der Tiere mitnehmen?
Seine Tasche lag gepackt bereit und morgen ging es los. Wien. Eleonore würde es nicht gefallen, ob der Gefahr, die damit einherging. Wo Entscheidungen gefällt wurden, konnte es erneut zu Kämpfen kommen. Was waren Tage, lag vor ihnen doch ihr ganzes Leben! In Württemberg, in Deutschland. Umso wichtiger war es beizutragen, dass es ein lebenswertes Land wurde. Eleonore konnte ihn nicht in die Staaten begleiten, ohne ihren Vater und Fritze, den Waisenjungen, zu verlassen. Das konnte, das wollte er ihr nicht abverlangen.
Er stand auf und griff nach seiner Jacke. Vogt nickte ihm kurz zu, als er an ihm vorbei hinaus auf die Straße trat. Auf dem Weg dachte er darüber nach, wie er Eleonore seine Reise beibringen konnte.
Maria öffnete ihm die Tür. »Sie kommet grad recht. Essen stoht glei ufm Tisch!«
Eleonore stand im Speisezimmer. Sie lächelte ihm zu und streckte ihm ihre Hände entgegen. Ihr Vater stand im Hintergrund und ließ ihnen einen Moment, bevor er vortrat und William eine Hand reichte. Fritze saß an seinem angestammten Platz und ließ die Tür nicht aus den Augen. Eugen trat ein und hielt eine große Schüssel in der Hand. Es war schön zu sehen, wie der Junge das reichliche Essen bestaunte. Vor Wochen war er ein mageres, bleiches Kind gewesen. Wäre da nicht das fehlende Bein, wäre er gesund und munter, wie ein Kind in seinem Alter sein konnte. Ende März würde er seinen 13. Geburtstag feiern. Nachdem sein tatsächlicher Geburtstag nicht ermittelt werden konnte, nur das Jahr, hatte Konrad Herbst einfach den Ehrentag Eleonores zu Fritzes Geburtstag erklärt und dies amtlich festgehalten. Sie habe den Jungen schließlich entdeckt.
Maria brachte eine weitere Schüssel und alle nahmen Platz. Während des Essens sprachen sie kaum. Danach saß William mit Eleonore und ihrem Vater zusammen.
»Ich soll Ihnen Grüße von Bettina von Arnim ausrichten«, begann Eleonores Vater.
»Das hat sie mir ebenfalls aufgetragen«, ergänzte sie.
»Danke!«, sagte William.
»Ludwig Uhland lässt ebenfalls Grüße ausrichten«, fuhr Konrad Herbst fort. »In Frankfurt ist es ruhig, wohingegen …« Er brach ab.
William schluckte. »Ich werde reisen«, begann er. »Zunächst nach Augsburg, zum Herausgeber der Allgemeinen Zeitung.«
»Und weiter?«, fragte Eleonore leise.
»Nach Wien. Robert Blum, ein Abgeordneter aus Frankfurt, bat mich darum. Er reist mit einer Delegation des Paulskirchenparlaments.« Es war heraus.
»Ein unruhiges Pflaster«, sagte Konrad Herbst ernst.
William sah zu Eleonore. Sie saß steif da, presste ihre Lippen zusammen. »In den Vereinigten Staaten sind sie am Fortlauf der politischen Ereignisse interessiert. Man bat mich, insbesondere darüber zu berichten«, legte er schnell nach.
»Du gehst dorthin, wo sie lynchen?«
»Ich werde Kämpfe meiden und …«
»Wie in Berlin?«, fiel ihm Eleonore ins Wort. Sie blickte zu ihrem Vater, als erheische sie Zustimmung. »Wie kannst du von Kämpfen berichten, ohne mittendrin zu sein? Sie werden es nicht beim Reden belassen.« Tränen traten ihr in die Augen. William erschrak.
»Wann soll es losgehen?«, fragte Konrad Herbst.
»Morgen früh«, murmelte William. Er sah Eleonore an. »Für ein oder zwei Wochen.«
»Geh nach Wien und lass dich totschießen!«, platzte Eleonore heraus. »Der Hieb hätte deinen Kopf spalten und nicht nur eine Narbe auf der Stirn hinterlassen können. Warum müsst ihr Männer immerzu kämpfen?« Ihre Lippen bebten. »War das alles leeres Gerede, dass Gewalt dir ein Gräuel ist? Dass du sie verabscheust?«
»Du tust William unrecht«, tadelte sie ihr Vater. »Den Abgeordneten Blum habe ich als einen besonnenen Mann kennengelernt.«
»Ach!«, seufzte sie, stand auf und rannte aus dem Zimmer.
Williams Mund war trocken geworden.
»Es sind die schlechten Nachrichten, die sie bedrücken«, sagte Konrad Herbst. »Sie wird es verstehen.«
***
In der Nacht lag Eleonore wach im Bett und starrte in die Dunkelheit. Wie hat es so weit kommen können? William hatte sie in Rage gebracht, und da gab es kein Halten. Als sei ein Damm gebrochen, war es aus ihr herausgesprudelt. Der Unwille über die männlichen Dummheiten. Männer kämpften um ihre Ehre, um Macht und wollten recht haben. Und Männer starben.
Erinnerungen an die Berliner Straßenkämpfe, an blutverschmierte Gesichter, Nonnen, die an der Seite Sterbender Gebete sprachen, ließen sie schaudern. Was drängte Männer dazu, stets die Gefahr zu suchen? William wollte den Frieden, wollte mit seiner Feder, seiner Waffe, wie er sagte, gegen Unrecht anschreiben. Und hatte er in Berlin nicht versucht, Männer zu beruhigen, hatte sie ermuntert, keine Gewalt anzuwenden?
Sie wälzte sich hin und her. Alles war still, alles war dunkel. Einmal meinte sie, von der Straße her schwere Stiefel zu hören, ein Licht zu sehen. Vielleicht der Nachtwächter auf seinem einsamen Gang durch die Stadt.
Endlich dämmerte es wirklich. Schwach drang Licht durch die Fensterläden. Konnte das sein, war sie nicht erst zu Bett gegangen? Wo für viele ein neuer Tag anbrach, schlief sie ein, bis das Knarren der Fensterläden sie weckte. Sonnenlicht griff in hellen Streifen nach ihr. Sie nahm jemanden wahr, der an ihr vorbeihuschte. Maria. Mit einem Mal war sie hellwach. Wie spät war es? Sie schlug die Decke zur Seite, stand auf, raffte ihre Anziehsachen zusammen, schlüpfte in ihre Kleider. Auf der Straße fuhren Fuhrwerke vorbei, gingen Passanten. Sie konnte sie hören.
Unten lag die Küche verwaist. Sie hatte das Frühstück verpasst. Auf der Herdplatte stand ein blecherner Krug. Sie trat heran, nahm eine Tasse und goss Kaffee ein. Er tat ihr gut und sie verspürte Hunger. Auf der Anrichte lag ein Hefezopf. Sie schnitt ungelenk ein großes Stück herab, biss hinein, trank erneut Kaffee. Da holten sie die Geister der Vergangenheit ein. Sie sah Williams verletzte Miene, als sie ihm all die Vorwürfe gemacht hatte. Und Vaters ungläubiges Staunen.
Fritze! Um Gottes willen, der Junge! Heute war sein erster Tag in der Waisenhausschule und sie hatte ihn begleiten wollen. Ging denn alles schief? Brachte sie nichts mehr zustande? Sie stellte die Tasse ab, zog ihr Kleid straff und mit einem Mal war ihr klar, was zu tun war. Sie würde zunächst William aufsuchen, ihn um Entschuldigung bitten ob ihrer Torheit. Wie hatte sie sich vergessen können. Sie straffte ihren Rücken. Eine junge Liebe musste derlei aushalten. Hernach wollte sie weiter zum Waisenhaus, wollte Fritze zumindest abholen. Und als Entschuldigung würde sie ihm ein großes Stück Schokolade geben. Ihr war egal, dass Maria schimpfen würde, denn sie war es ja, die sie nicht geweckt hatte. So war Eugen allein mit dem Jungen losgezogen.
Sie ging schnellen Schrittes hinunter in die Stadt. Auf den Straßen herrschte reger Verkehr. Kutschen ratterten dicht an ihr vorbei. In ihrem Kopf wichen nach und nach die Schatten des Streites. Wenn sie ihren William erst einmal in den Armen hielt, würde alles gut werden. Am Waisenhaus verharrte sie kurz, spähte zu den Fenstern. Dahinter saß irgendwo ihr Fritze. Sie eilte weiter. Atemlos erreichte sie Vogts Haus und klopfte heftig an.
»Fräulein Eleonore! Was führt Sie zu mir?«
Sie versuchte ein Lächeln, blickte an Vogt vorbei ins Haus.
»Ich wollte William, ich wollte Herrn Euskirchen sprechen. Darf ich eintreten?«
Vogt trat zur Seite. »Er ist abgereist«, sagte er.
»Er ist was?« Sie schluckte, presste die Lippen aufeinander.
»Treten Sie ein«, bat Vogt. Er schob ihr einen Stuhl hin. »Kein Grund zur Sorge! Der junge Herr kommt bald zurück.«
Sie sank zusammen, stützte ihre Arme auf den Tisch, schlug ihre Hände vor Mund und Nase. Ihre Augen glänzten nass.
Vogt schüttelte seinen Kopf. »Er hat mir eine Nachricht gegeben und mir auferlegt, sie auszuliefern. Entschuldigen Sie, dass ich erst gefrühstückt habe. Ich wusste ja nicht …« Der Böttcher trat an den Schrank.
Mit zittrigen Fingern nahm sie das Kuvert entgegen und öffnete es.
Liebste Eleonore,
ich wünschte, ich hätte mich persönlich verabschieden können. Die Zeit drängt, denn ich will schnell in Wien sein. Umso schneller komme ich heim, zurück zu dir. Die Tiere werden dir Grüße senden. Jeden zweiten Tag. Und ich werde Briefe schreiben. Danke auch du dem guten Vogt.
Dein William
»Die Tiere werden mir Grüße senden?« Sie verstand nicht, was William damit aussagen wollte.
Vogt lächelte. »Er hat vier meiner Tauben mitgenommen, mehr passten nicht in den Käfig. Sind es zuverlässige Tiere?, hat er gefragt. Sie wissen es ja, Fräulein Eleonore, die Tauben kehren heim, es sei denn, es holt sie der Bussard. Oder sie werden vergiftet.«
Von Frankfurt aus benötigte eine Brieftaube wenige Stunden. Wie lange würden sie von Wien aus benötigen?
***
August von Engel saß am Schreibtisch und verrichtete die Papierarbeit, die ihm der Kommandant gerne überließ. Eigentlich hätte er den Dienst erst zum 1. November antreten sollen, doch dann hätte er sich zwischenzeitlich irgendwo einmieten müssen. Es schadete nicht, das Wohlwollen seines Vorgesetzten zu erhalten, wenn er diesem früher Arbeit abnahm.
Darunter war ein Rapport, der die Anzahl der Insassen auflistete, und der vermeldete, wer neu hereinkam und wer entlassen wurde. Der überwiegende Teil der Gefangenen waren Männer, die irgendwo mit revolutionären Umtrieben aufgefallen waren. Den Wirt Gustav Werner kannte er flüchtig. In dessen Lokal in Stuttgart verkehrte revolutionäres Gesindel, und einer der Papageien, die er hielt, hatte zu laut »Hecker« gerufen. Werner stand in Verdacht, die Umsturzpläne des Fabrikanten Rau unterstützt zu haben. Dessen Pläne konnten vereitelt werden und auch er saß auf dem Hohenasperg ein.
August dachte daran, wie er in Werners Lokal zum ersten Mal William und Friedrich Euskirchen begegnet war. Beide hatten das ihre beigetragen, dass er auf den Hohenasperg abkommandiert worden war. Wegen ihnen war ihm Eleonore entglitten. Nach deren Berlinreise im März war alles anders gekommen. Nacheinander hatte er ihre Gunst, die ihres Vaters und am Ende die des Königs verloren. Nun musste er in der Abgeschiedenheit des Hohenaspergs ein halbes Jahr Dienst verrichten.
Und dann?
Wohin würde er zurückkehren? Der Weg in die Garde des Königs war ihm versperrt. Blieb eine kämpfende Einheit. August strich mit der Zunge über seine Lippen. Immer wieder gab es Glutnester revolutionärer Umtriebe, die es galt, im Keim zu ersticken. Gerne half er.
Und Eleonore gab er noch lange nicht verloren, egal ob sie ihn liebte. Sie hatte Geld und ihr Vater war ein angesehener Anwalt. Eine Zweckehe war nichts Außergewöhnliches. Und Eleonore hatte den Waisenjungen aus Berlin, dem sie ihre Liebe schenken konnte. Nach dem, was ihm berichtet worden war, war sie vernarrt in diesen Jungen. Er brütete nach. War er der Schlüssel zu ihr? Zuvor musste er die beiden Brüder kaltstellen. Eleonore hatte sich für den jüngeren der beiden entschieden. Den, den er verhaften wollte und der dann mit ihr im Ballon geflohen war.
August nahm ein Blatt auf und las. Da war wieder dieser Gustav Werner. Der beschwerte sich über die Haftbedingungen. Das Essen sei zu wenig, die Zelle kalt und zugig, die Bettwäsche ein von Wanzen zerfressenes Tuch. Ha! Erwartete er Speisen wie in seinem Lokal? Sollte er in eines der Wirtshäuser gehen, wenn ihm die Anstaltskost nicht ausreichte. Da mangelte es wohl an Geld. Gut, dass andere ebenfalls Geldsorgen haben, dachte August.
Er wollte den Vermerk »Nicht weiterleiten« darauf schreiben, als ihm eine bessere Idee kam. Er zerknüllte das Schreiben und warf es in die Ecke der Stube. Wenn es nach ihm ginge, würde man solche Männer nie mehr in die Freiheit entlassen und sie wie einst den Dichter Christian Friedrich Daniel Schubart auf Jahre hinaus einsperren. Der war zehn Jahre eingesessen, weil er den Herzog von Württemberg und seine Geliebte verunglimpft hatte.
Es klopfte.
»Ja«, rief August.
Einer der Wachsoldaten trat ein. »Da ist jemand, der will zu euch.«
»Wie heißt er?«
»Er hat keinen Namen genannt und …« Der Soldat stockte.
»Und was?«
»Ich glaube, er kann nicht sprechen. Er stammelt mehr. Sollen wir ihn abweisen? Ein großer Mann, man möchte sagen ein Hüne.«
August stand auf. Auch ohne den Nachsatz wusste er, wer ihn da aufsuchte. Es war Albert, ein einfältiger Mann. Vor Jahren hatte er an die Haustür der von Engels geklopft und gebettelt. Damals hatte ihm Augusts Vater eine Hacke in die Hand gedrückt und gesagt, er solle erst einmal im Garten Ordnung schaffen. So groß und stark, wie er aussehe, würde ihm Arbeit sicher nicht fremd sein. Danach würde es Essen geben.
Seit jenen Tagen arbeitete er für die von Engels, versah einfache Dienste. Viele nannten ihn den Riesen und fuhren erschrocken zurück, wenn sie ihn sahen. Nicht zuletzt wegen der zahlreichen Narben, die sein Gesicht entstellten. Albert tat, was man ihm sagte. Nein, was ich ihm sage. Die Treue seinem Vater gegenüber war nach dessen Tod auf ihn übergegangen. Anfangs hatte er nicht viel mit Albert anfangen können. Dann hatten ihn, als er mit Albert sprach, Gläubiger aufgesucht. Sie hatten den Knecht in einer Mischung aus Ekel und Angst angestarrt. Albert kann euch Respekt lehren, hatte er lapidar gesagt. Sein Diener war, nachdem er seinen Namen gehört hatte, einen Schritt auf die Männer zugegangen. Die wichen zurück und zogen unverrichteter Dinge wieder ab. Ja, der Hüne war jemand, der anderen Angst einjagen konnte.
August hatte den Mann völlig vergessen. Es musste für Albert ein Schock gewesen sein, im Haus niemanden mehr anzutreffen. Erstaunlich, dass er den Weg zu ihm gefunden hatte.
»Ich komme.« Er ging voraus. Unterwegs wandte er sich um. »Hat man die Unordnung im Kräutergarten in Ordnung gebracht?«
»Nein, Herr Leutnant. Ich will mich sofort darum kümmern.«
»Papperlapapp! Das wurde mir mehrfach versprochen. Der Mann, der mir seine Aufwartung macht, ist ein Diener meiner Familie. Sie werden ihm eine Kammer zuweisen und er wird im Garten Arbeit verrichten.«
»Zu Befehl!«
Albert trat ihm am Tor entgegen.
»Arbeit«, sagte er. »In Haus nicht gut.«
August lächelte grimmig. Friedrich Euskirchen konnte mit so einem Mann nichts anfangen. Ihm lag mehr an Spitzeln, die unauffällig agierten, die niemand wahrnahm. Albert dagegen war nicht zu übersehen. Schwülstige Narben durchzogen sein Gesicht.
»Der Soldat wird dir eine Kammer zuweisen und du kannst im Garten arbeiten.«
Der Hüne nickte.
Da fiel ihm etwas ein. »Kannst du immer noch so schön singen?«, fragte August.
»Das Wandern ist des Müllers Lust, das Wandern …«
August hob die Hand. Es war erstaunlich, welch schöne Gesangsstimme da in einem entstellten Körper Platz gefunden hatte. »Das reicht. Du kannst bei der Arbeit singen, wenn dir danach ist.« An den Soldaten gewandt fuhr er fort: »Sie sorgen mir dafür, dass er gut zu essen bekommt.«
Der Soldat salutierte.
An Albert gewandt fuhr August fort. »Du bist eine treue Seele. Ich werde nach dir schauen und darauf achten, dass es dir gut geht.«
Später stand August am Fenster seiner Kammer und blickte hinaus. Er sah einen Teil des Hofes, wo die Gefangenen ihre Runden drehen durften. Der Hüne war ein Lichtblick. Vielleicht würde er ihm noch gute Dienste erweisen. Gegen die Brüder, oder andere, die ihm im Weg standen, Eleonore zu bekommen.
3. Mitten hinein
Oktober 1848
Wien, Stammersdorf und Stuttgart
William stand im Büro des Redakteures der Augsburger Allgemeinen Zeitung und wartete. Ein mannshoher Spiegel zeigte ihm sein Ebenbild. Kommen Sie nach Wien, dort wird die Revolution entschieden, rief er sich Blums Zeilen in Erinnerung. Und Eleonores Worte: Geh nach Wien, und lass dich totschießen.
Er nahm auf einem der Stühle gegenüber einem wuchtigen Schreibtisch Platz. Seine Gedanken schweiften ab zu Eleonore und ihrem angsterfüllten Gesicht. Er versuchte vergebens, seine Gedanken in eine andere Richtung zu leiten. Erst als es vor der Tür lebhaft wurde, war er im Hier und Heute. Ein Mann mittleren Alters trat ein.
»Gestatten, Kolb.«
William stand auf, reichte ihm die Hand. »William Euskirchen.«
»Es freut mich, Sie endlich persönlich kennenzulernen. Sie kamen aus Boston, und doch haben wir eine Gemeinsamkeit. Auch ich wurde in Stuttgart geboren.«
William staunte.
»Das ist aber lange her. Ihre Beiträge haben unsere Zeitung belebt. Nehmen Sie bitte Platz. Was führt Sie nach Augsburg?«
»Ich reise nach Wien«, begann William.
Sie nahmen Platz. Kolb warf einen flüchtigen Blick auf die ausgebreiteten Unterlagen.
»Mitten hinein, wie?«
»Auf Einladung des Abgeordneten Blum. Er erwartet große Ereignisse und ich soll darüber berichten.«
»Ich erwog in der Tat, jemanden nach Wien zu senden«, sagte Kolb. »Wir stehen am Scheideweg und Österreich hat großen Einfluss auf die Geschicke Deutschlands.«
»Das glaubt Robert Blum auch. Siegt in Wien die Revolution, wird sie andernorts siegen, so seine Aussage.«
Kolbs Augen leuchteten auf.
»Ich erteile Ihnen den Auftrag, aus Wien zu berichten.« Er hob seine Stimme. »Es ist nicht ungefährlich. Denken Sie daran, dass Gewalt nichts und niemanden voranbringt. Sie dürfen auch nicht im Hintergrund zu sehr wühlen und zu Ungehorsam aufrufen. Bleiben Sie dabei, nur zu berichten. Man gerät schneller ins Gefängnis, als man denken kann.«
»Das stimmt.«
»Ich weiß es aus eigener Erfahrung. Mich haben sie für zwei Jahre auf dem Hohenasperg eingesperrt, da ich einer hochverräterischen Verbindung angehört haben soll.«
»Das wusste ich nicht.«
»Ist schon lange her. Denken Sie nur, hinterher hat sich sogar der württembergische König bei mir entschuldigt. Die Strafe sei zu hart ausgefallen, aber den Umständen geschuldet gewesen.« Kolb räusperte sich. »Ich hoffe, alles geht in Ruhe vonstatten und die Pressefreiheit bleibt bestehen. Ihr haben wir zu verdanken, dass unsere Auflage deutlich die Zehntausender-Marke überschritten hat.«
Da sprach er William aus dem Herzen. Eine freie Presse war die Grundlage für die Vielfalt an Zeitungen, wie er sie aus den Vereinigten Staaten kannte. Da gab es selbst in den kleinsten Orten eigene Blätter, und in den Großstädten derer ein Vielfaches. In New York, so wusste er, erschienen weit über zweihundert Zeitungen, nicht wenige davon täglich.
»Ich werde beobachten und berichten, nicht kämpfen«, entgegnete William.
»Heißköpfe gibt es allerorten«, fuhr Kob fort. »Die Wiener erscheinen mir größtenteils vernünftig.«
William nickte und bedauerte, dass Eleonore die beruhigenden Worte nicht hören konnte.
»Ich werde heute weiterreisen«, sagte William. »Über München.«
»Da haben wir nicht lange Zeit, wenn Sie den Zug nehmen wollen. Mein Wagen wird Sie zum Bahnhof bringen.« Kolb hielt inne. »Ich gebe Ihnen einen Presseausweis mit. Die einen werden ihn achten, den anderen wird er nichts wert sein. Einen Vorschuss bekommen Sie selbstredend auch.«
Eine Stunde später saß William im Zug nach München. Die freundliche Behandlung Kolbs ließ ihn frohen Mutes nach vorne blicken. Das Geld war nicht nötig, seine Reisekasse war auch so ausreichend gefüllt gewesen, aber es verhieß, dass er künftig für ihren Lebensunterhalt aufkommen konnte. In Deutschland.
Den Käfig mit den Brieftauben stellte er zu seinen Füßen ab. Manche der Mitreisenden rümpften ihre Nase, andere betrachteten die Tiere mit unverhohlener Neugier. William blieb stumm.
Die Zugfahrt war der angenehmste Teil der Reise. Weiter ging es in Eilwagen über staubige Landstraßen mit unzähligen Halten an Poststationen. William nahm sein Umfeld kaum wahr. Zu viele Gedanken kreisten in seinem Kopf.
Eine halbe Tagesreise vor Wien wollte er umsteigen, da hieß es, eine Weiterfahrt sei nicht möglich.
Der Posthalter trat zu William. »Die Wiener fliehen zu hunderten aus der Stadt.« Er deutete zu einer Reihe Frachtwagen, die am Rande des Posthofes standen. Alle in auswärtiger Richtung. Sie waren vollgepackt mit Möbeln und in Decken gehüllten Gemälden. »Vielen sind die revolutionären Umtriebe nicht geheuer. Die Soldaten des Kaisers rücken aus allen Himmelsrichtungen heran. Da zieht ein Gewitter auf.«
»Kann ich eine Kutsche mieten?«, fragte William.
»Den letzten Wagen habe ich vor kurzem einem Kaufmann vermittelt. Wenn Sie wirklich in die Stadt wollen, kann ich ihn gerne fragen, ob er Sie mitnehmen würde. Warten Sie in der Wirtsstube.«
Eine Magd brachte ihm Brot und Käse.
»Haben die Tierchen Hunger?«, fragte sie und musterte neugierig die Tauben, die leise vor sich hin gurten.
»Danke, nein. Die haben ihr eigenes Futter.«
»Das sind Brieftauben, nicht wahr?«
»Hmm«, machte William. Ihm war nicht nach reden zumute.
»Mein Großvater hat mir davon erzählt. Sie können schnell Nachrichten übermitteln, schneller als jede Kutsche, jeder Postreiter. Sogar schneller als die Eisenbahn.«
Der Posthalter kam nicht allein zurück. Ihm folgte ein Mann in fremdländischer Kleidung. Er trug eine sonderbare rote Mütze, eine blaue Weste und einen roten Umhang.
»Mustafa Aslan«, stellte der Posthalter ihn vor. »Er ist türkischer Händler, Kaffeehausbetreiber und will in die Stadt, bevor ihm sein Geschäft ausgeraubt wird. Er hat den letzten Wagen gemietet.«
William wurde schnell einig mit Aslan und bald darauf stand eine offene Kutsche vor ihm. Auf der Ladefläche lagen einige Säcke. Er stellte den Käfig mit den Tauben und seine Reisetasche dazu.
»Die Tiere werden mir schon nicht die Kaffeebohnen wegessen, oder?« Aslan lachte. »Ich habe Decken«, fuhr er fort. Er sprach ohne jeden Akzent. »Am besten legen wir eine um den Käfig und eine über unsere Beine. Wenn wir uns beeilen, erreichen wir Wien vor der Dunkelheit.«
Mustafa Aslan erzählte, dass er in Wien geboren sei und seine Familie dort seit Jahrzehnten lebe. Die Türken hätten mehr als fünfhundert Sack Kaffee zurückgelassen, als sie 1683 erfolglos Wien belagerten.
»Wien ist eine Stadt des Handels«, sagte Aslan. »Da sind der Donaufluss, Handelsstraßen, und neuerdings die Eisenbahn, die Wien mit der Welt verbinden. Der Kaffee ist seit jenen Tagen nicht mehr wegzudenken, und unsere Familie ist ihm treu geblieben.«
»Handel gedeiht im Frieden, nicht im Krieg.« Das hätte von Friedrich sein können, dachte William. Wo weilte der? Konnte es sein, dass er mit Eleonore zusammentraf? Würde sie ihn empfangen? Er war kein Abenteurer, lebte ein bürgerliches Leben. Eine Verlockung für Eleonore?
»Die Wiener schlagen derzeit einander die Köpfe ein, und man muss Schlimmes befürchten.«
William vertrieb die Gedanken an seinen Bruder. »Ich hoffe, es bleibt beim Reden. Von Kämpfen habe ich genug berichtet. Aus Berlin, Frankfurt und aus den Vereinigten Staaten.«
Aslan musterte ihn. »Darauf meine Hand!«
Die beiden Pferde, die ihren Wagen zogen, schritten ruhig ihres Weges. Offenbar war der ihnen nicht fremd. Aslan fand reichlich Zeit, mit ihm zu plaudern. William erfuhr, dass Aslan unweit des Stephansdoms ein Kaffeehaus betrieb.
»Wenn es nichts über die Revolution zu berichten gibt, werde ich über die türkische Familie Aslan berichten.«
Beide lachten. Es begann zu dämmern und eine Zeitlang fuhren sie schweigend dahin. In der Ferne erschienen schwache Lichtpunkte, und als sie näherkamen, sahen sie links und rechts der Straße Zelte, vereinzelte Lagerfeuer und ein geschäftiges Treiben zwischendurch.
»Der Kaiser belagert Wien«, sagte Aslan düster. »Wenn das Kara Mustafa Pascha sehen könnte.«
William sah ihn fragend an.
»Hier kampieren die Kaiserlichen. Sie wollen den Aufwieglern in Wien einen Besuch abstatten. Kara Mustafa Pascha war einst der Befehlshaber der großen türkischen Armee, die 1683 Wien belagerte. Er scheiterte und wurde später auf Geheiß des Sultans erdrosselt.« Aslan stoppte den Wagen. »Hier haben vor über 150 Jahren auch die Osmanen gelagert. Mir gefällt das nicht. Mir scheint, wir fahren mitten hinein in die Armee des Kaisers.« Er seufzte auf. »Nun denn, es hilft ja nichts.«
Sie fuhren weiter. Die Zelte rückten nahe an die Straße heran und sie erreichten eine Straßensperre. Aslan zügelte erneut die Pferde. Im Nu waren sie von gut einem Dutzend Soldaten umstellt. Sie musterten den Wagen. Einer trat heran und zog die Decke vom Käfig. Die Tauben gurrten.
»Kann man die essen?«, fragte er.
»Ruhe da!« Ein Offizier trat vor. »Wohin soll die Reise gehen?«
William wollte antworten, da legte ihm Aslan eine Hand auf den Arm.
»Nach Wien«, erklärte er. »Ich habe ein Geschäft und möchte es in unruhigen Zeiten nicht allein lassen.« Er reichte dem Offizier Papiere.
»Wagen nach Waffen durchsuchen«, befahl der.
William gab ihm seinen Ausweis. »Ich bin Journalist und meine Waffe ist der Stift.«
»Passen Sie mir auf, dass Ihnen der nicht zu spitz gerät.«
Die Soldaten traten vom Wagen zurück.
»Und?«, fragte der Offizier.
»Alles sauber, Herr Leutnant«, meldete einer.
»Weiterfahren!«, blaffte der und gab ihnen ihre Papiere zurück.
»Sie werden bald niemanden mehr durchlassen«, mutmaßte Aslan.
Bald darauf erreichten sie eine Anhöhe. Sie hielten an. Die Donau und etliche Seitenarme durchzogen rechts, gleich silbrigen Adern, die Landschaft. Über den Hauptstrom führte eine dunkle Brücke, die sich bei genauerer Betrachtung als eine Reihe aneinander befestigter Boote entpuppte.
»Sie haben die Donau abgeriegelt«, stellte William fest.
Geradeaus ragten in der Ferne die Kirchtürme Wiens in den Himmel. Einer schien William alle anderen zu überragen. Das musste der Kirchturm des Stephansdoms sein.
Sie fuhren weiter die Straße hinunter und sahen bald eine weitere Straßensperre. Da lungerten zu beiden Seiten Männer rund um zwei Lagerfeuer. Ein Heuwagen stand quer zur Fahrtrichtung.
»Bittschön, wenn die Herren herabsteigen wollten«, begrüßte sie ein korpulenter Mann, der aus einer Gruppe heraus auf sie zukam. Er trug eine ausgebleichte Uniformhose, dazu eine braune Jacke. Seine Kameraden traten näher. Manche trugen keine Uniform, manche nur Teile davon. Viele hatten eine Feder auf ihrem Hut sitzen.
William sah das als Hinweis, dass die Wiener mobilisiert worden waren. Im Vergleich zu den geordneten Soldaten, die sie zuvor passiert hatten, wirkten sie wie Bürger auf einem Jagdausflug. Er stieg vom Wagen herunter und Aslan folgte ihm.
»Wir prüfen im Auftrag des Stadtkommandanten alle, die in die Stadt wollen. Meine Legimitation.«
Er reichte William ein Schriftstück. Darin stand, dass niemand mehr hineingelassen werden dürfe, ohne zuvor zu klären, welcher Gesinnung er sei. Unterschrieben war mit Messenhauser, Provisorischer Ober-Commandant.
»Ich vertrete die freie Presse«, sagte William.
Er holte den Brief Blums heraus. »Und reise auf Einladung des Abgeordneten der Paulskirche, Robert Blum.«
»Und er?« Der Wachmann musterte Aslan.
»Er wohnt in Wien«, sagte William.
Aslan holte einen der Säcke von der Ladefläche. »Eine Kostprobe guten Kaffees gefällig?«, sagte er dazu. Mehrere Männer eilten herbei.
»Echter Kaffee!«, stieß einer freudig aus. »Wenn wir eine Mühle auftreiben, wird die Nacht nicht kalt.«
»Sie können weiterfahren«, beschied ihnen der Anführer.
»Im Grunde habe ich ihnen aus Mitleid den Kaffee geschenkt«, plauderte Aslan. »In wenigen Tagen wird es zu Kämpfen kommen, und ich kann mir nicht vorstellen, dass die Aufständischen, mag ihr Herz voll von Pathos sein, gegen die regulären Truppen lange standhalten können.«
William stimmte zu. Sie fuhren schweigend weiter.
Bald erreichten sie eine der Vorstädte Wiens. Manche Fenster waren mit Holzbrettern vernagelt.
»Im Frühjahr gab es Kämpfe«, berichtete Aslan. «Da gingen etliche Scheiben zu Bruch.«
Eben noch hallte der Hufschlag der Pferde in der Straße, als sie eine weite, offene Fläche erreichten.
»Das Glacis«, erklärte Aslan. »Bis da sind die Türken damals vorgedrungen. »Die Festungsmauern der inneren Stadt konnten sie nicht überwinden. Der grüne Gürtel darf nicht bebaut werden und in friedlichen Zeiten dient er den Bewohnern als Park.«
William blickte umher. Zu beiden Seiten der Straße lag ein breites grünes Band, durch das Alleen führten. Sie fuhren auf ein großes Tor mit drei Rundbögen zu.
»Das Schottentor«, sagte Aslan. »Wir sind da. Wohin soll es in der Stadt gehen?«
»Hotel Stadt London«, sagte William. »Ist das weit?«
Aslan lächelte. »Mein Lager liegt in derselben Straße.«
***
Friedrich Euskirchen stand am Fenster und blickte hinaus auf das Treiben im Hauptquartier der österreichischen Armee in Stammersdorf nahe Wiens. Entscheidende Tage standen bevor, daran gab es keinen Zweifel. Und er wollte, nein, er würde dazu beitragen, dass es in die richtige Richtung ging. Was er sah, stimmte ihn positiv. Die Soldaten mussten bald auf ihre Landsleute und wahrscheinlich auf Kameraden schießen, ihrer Disziplin tat dies offensichtlich keinen Abbruch. Wenn nur die Führung die nötige Härte bewies und nicht zauderte, konnte der Spuk der Revolution bald vorbei sein.
Mit Schaudern dachte er an die Ereignisse in Berlin zurück. Im März war es beinahe zu einer Katastrophe gekommen. In letzter Minute war ein Plan vereitelt worden, von dem er durch seinen Bruder erfahren hatte. Dessen spezielle Freunde hatten Uniformen anfertigen lassen, wollten den Übertritt der Soldaten auf die Seite der Revolution vortäuschen, in der Hoffnung, damit andere Einheiten zur Nachahmung zu bringen. Die falschen Uniformen waren in Flammen aufgegangen, bevor sie Schaden anrichten konnten.
In Wien hatten Soldaten einer Garnison den Befehl verweigert, gegen die aufständischen Ungarn zu ziehen, und stattdessen mit Studenten und anderen Aufwieglern gemeinsame Sache gemacht. Keine weiteren Truppen waren ihrem schändlichen Beispiel gefolgt, aber der Kaiser war geflohen, mit ihm die bürgerliche Oberschicht. Eine ungarische Armee zog gegen Wien, versprach den Aufständischen Beistand. Dazwischen lagen kaisertreue Truppen aus Kroatien, und General Alfred Fürst zu Windisch-Grätz eilte mit seinem Heer aus Böhmen herbei. Eilen Sie nach Wien, suchen Sie den höchsten Militär auf, und überzeugen Sie ihn von der Dringlichkeit, entschlossen zu handeln, so schrieb ihm Wilhelm, der Prinz von Preußen. Und bekräftigte. Nur Stahl kann die Antwort geben!
Eine heikle Mission. Niemand, schon gar nicht ein hoher Militär, war auf Ratschläge eines Zivilisten aus. Noch weniger, wenn diese aus dem preußischen Königshaus waren. Die Habsburger und die Hohenzollern verband keine besondere Freundschaft. All dies machte Friedrich indes nicht bange. Wieder würde William ihm helfen, ohne es zu wissen.
Vor einer Stunde war Friedrich in Stammersdorf angekommen und gleich zum Hauptquartier des Fürsten geeilt. Seitdem wartete er in einem kargen Nebenzimmer darauf, zu Windisch-Grätz vorgelassen zu werden. Rund um das Haus warteten weitere, und eben fuhr ein Reisewagen vor. Steifbeinig stiegen fein gekleidete Männer aus, die suchend umherblickten und den ersten Offizier ansprachen, der ihnen über den Weg lief. Ein heftiges Wortgefecht begann und Friedrich wollte das Fenster öffnen, um zu verstehen, worum es ging, als hinter ihm die Tür aufging.
»Der Fürst erwartet Sie«, meldete ihm ein Offizier und beschied ihm zu folgen.
Windisch-Grätz saß hinter einem Schreibtisch und hielt das Empfehlungsschreiben des Prinzen von Preußen in der Hand.
»Alle Welt will mit mir in Kontakt treten«, klagte der Fürst. »Und jetzt ein Preuße.«
»Den Prinzen von Preußen treibt die Sorge um, dass aus Wien falsche Signale gesendet werden.« Friedrich blickte offen, ohne Scheu. Du willst das Gleiche, dachte er.
»Ja, ja. Hättet ihr mal in Berlin im März entschiedener gehandelt.« Er seufzte auf. »Gleichwohl, wir haben es später ebenso nicht verhindert, dass Untertanen über ihre Befugnisse hinauswachsen. Worin liegt eure Hilfe, die der Prinz anbietet?« Sein Blick streifte Friedrichs leeren linken Ärmel und verharrten einen Moment.
Ich mag in deinen Augen ein Krüppel sein, militärisch nutzlos, dachte Friedrich. Es brachte nichts, zu streiten. Er griff in seine Jacke und zog das Plakat heraus, das er vor Tagen gezeichnet hatte.
»Damit«, sagte er und reichte es weiter.
Windisch-Grätz nahm es entgegen. »Gesucht wird«, begann er zu lesen, »der angebliche Journalist W. Euskirchen. Er wird beschuldigt, mannigfach Unruhe angestiftet zu haben.« Der General betrachtete das Bild und hob ein paarmal den Blick.
»Sie wollen in die Stadt, sich als Journalist ausgeben und den Revolutionären glaubhaft machen, dass Sie zu ihnen gehören? Ist das Ihr Plan?«
Friedrich schmunzelte. »Nein. Ich bin bereits in Wien, was gut ist. Denn die Stadt ist ja umschlossen, und jeder, der hineinkommt, ist erst einmal verdächtig.«
»Was reden Sie da?«, brauste Windisch-Grätz auf. »Sie stehen leibhaftig vor mir!«
Friedrich hob beschwichtigend seine Hand. »Mein Bruder ist in der Stadt, hineingerutscht, bevor der Belagerungsring geschlossen wurde. Er gleicht mir. Mit einer Narbe, wenn Sie das Bild noch einmal ansehen wollen, kann ich nicht dienen.«
Der Feldmarschall brummte, nickte dann zweimal zustimmend. »Teuflisch«, raunte er.
»Mein Bruder ist Journalist, lebte einige Jahre in den Vereinigten Staaten und hat mir in Berlin unwissentlich gute Dienste erwiesen. Aufwiegler suchten seine Nähe, vertrauten ihm. So wird es in Wien sein. Der Fahndungsaufruf, hundertfach gedruckt und nach Wien eingeschleust, wird uns die Wege ebnen.«
Friedrich wusste, dass der Feldmarschall eine Felddruckerei in seiner Armee mitführte.
»Sind Sie sicher, dass Ihr Bruder in Wien weilt?«
»Es gibt keinen Zweifel.«
»Wir haben etliche Spitzel in der Stadt. Was nützt uns einer mehr?«, zweifelte Windisch-Grätz. »Und wie sollen die Aufrufe in die Stadt gelangen.«
»Ihr findet Wege. Die wenigsten Spitzel können ihre wahren Absichten verbergen. Da William kein Spitzel ist und es ehrlich mit den Aufständischen meint, reicht es aus, ihn zu überwachen und zu warten, bis die Aufwiegler bei ihm anbeißen. Sie werden seine Nähe suchen wie die Motten das Licht. Und alle, die mit ihm verkehren, sind verdächtig. Das bedeutet, man sollte sie genauer überprüfen, wenn die Stadt erst einmal beruhigt ist.«
Vor der Tür wurde es laut und gleich darauf trat der Offizier ein. Er flüsterte Windisch-Grätz ins Ohr. Der hob seine Augenbrauen und griff in seine blonden, leicht ergrauten Haare.
»Draußen wartet eine Abordnung aus Wien«, erklärte ihm der Feldmarschall. Friedrich horchte auf.
»Ich werde sie anhören müssen. Der Kaiser hat sie in Olmütz abgewiesen und an mich verwiesen. Das ist gut.« Er blickte Friedrich an. »Zu Ihrem Bruder. Er selbst soll nicht zu Schaden kommen, eh? Dabei verdienen die Schreiberlinge der zügellosen Presse ein hartes Vorgehen und drastische Strafen.«
Friedrich hielt inne. Würde William in Wien inhaftiert werden, wäre der Weg zu Eleonore frei. Andrerseits war ihm klar, dass, wenn William zu Schaden kam, ihm das Eleonore ankreiden würde.
»Jeder ist für sein Handeln selbst verantwortlich. Das gilt auch für meinen Bruder«, sagte er. »Sie sollten ihn befragen, wird man seiner habhaft, und ziehen lassen. Denn ist die Revolution erst einmal niedergeschlagen, sollen es alle erfahren. Und er wird davon berichten.«
»Nun gut, er kommt auf die Fahndungsliste, mit dem Vermerk, ihn meinem Hauptquartier zuzustellen.«
Friedrich neigte den Kopf. »Es wird Prinz Wilhelm gefallen, dass Sie zu handeln entschlossen sind.«
»Wenn man eine Armee hat, besitzt man die Mittel zu handeln. Und glauben Sie mir, ich werde handeln. Der Kaiser hat mir nicht umsonst den Oberbefehl über alle Truppen gegeben. Sie können gehen.« An seinen Adjutanten gewandt, sagte er: »Schauen Sie, was man aus dem Blatt des Herrn machen kann, geben Sie es in die Druckerei und sorgen Sie dafür, dass zahlreiche Exemplare in die Stadt gelangen. Aber zuerst lassen Sie die Delegation des Wiener Gemeinderates eintreten.«
Friedrich ging hinaus. Im Vorzimmer standen die Männer beisammen, die er zuvor aus der Kutsche hatte aussteigen sehen. Sie drängten an ihm vorbei. Er blieb stehen und wartete, bis der Letzte eingetreten war. Die Tür stand einen Spalt offen. Schnell stellte er einen Fuß hinein. Er konnte nichts sehen, hörte aber deutlich die Stimme des Feldmarschalls.
»Meine Herren, was Sie mir sagen wollen, weiß ich alles«, sprach der mit fester Stimme. »Sie sind, hoffe ich, dem Kaiserhaus wohlgesonnen. So trachten Sie mit mir, die verwirrten Gemüter Wiens auf den rechten Weg zu führen.«
Der Adjutant trat hinter ihn und zog die Tür zu.
»Seien Sie unbesorgt«, sagte er zu Friedrich. »Er wird’s ihnen zeigen.«
»Zum Wohle uns aller«, sagte Friedrich.
Der Adjutant trat an einen Tisch und hob ein Papier auf. »Das haben wir einem anderen Reisenden abgenommen, der wie Sie aus Berlin kam. Wir haben ihn unter Bewachung retourniert. Soll er in Preußen für Unruhe sorgen. Ich schenke es Ihnen.«
Friedrich nickte dem Offizier zu. »Ich danke Ihnen.«
Später las er das Schriftstück. Es wies einen Arbeiter namens Gustav Zandt als Gesandten der Berliner Arbeiterschaft aus. Friedrich steckte es in seine Jacke.
Figurenverzeichnis (*historisch)
Eleonore Herbst (19 Jahre alt)
Sie will ein selbstbestimmtes Leben führen und aus Liebe heiraten, nicht aus Vernunft. Das Los der Armen liegt ihr am Herzen und sie schreibt darüber heimlich ein Buch. Ihr großes Vorbild dabei ist Bettina von Arnim. Eleonore ist selbstbewusst, hin und wieder vorlaut.
Fritze (11 Jahre alt)
Eleonore hat den Jungen in den Berliner Familienhäusern kennengelernt und nach dem Tode seines Vaters in ihre Obhut genommen. Fritze ist aufgeweckt, wissbegierig und darüber hinaus ein guter Zeichner.
William Garrison Euskirchen (23) – Journalist
In einem amerikanischen Waisenhaus hat er erfahren, was es heißt, unfrei zu sein. Er kämpft mit Worten für Gerechtigkeit. William steckt voller Tatendrang, handelt zuweilen leichtsinnig, was ihm bereits Narben an Leib und Seele eingebracht hat. Seinem Bruder sieht er sehr ähnlich.
Friedrich Euskirchen (33) – Williams Bruder, Portraitmaler und Agent in Berlin
Er möchte die bestehende Ordnung um jeden Preis erhalten. Frauen gegenüber ist er galant und Affären nicht abgeneigt. Bei Eleonore erwacht sein Wunsch nach einer festen Bindung. Friedrich kennt keine Skrupel. Bei einer Aktion verlor er vor Jahren seinen linken Arm.
August von Engel (26) – Leutnant
Mit Glücksspiel gefährdet er seinen Besitz und sein Ansehen. In einer Heirat mit Eleonore sieht er die Lösung seiner Geldsorgen. August kaschiert seine Unsicherheit durch Brutalität.
Konrad Herbst (62) – Eleonores Vater
Anwalt und Freund des württembergischen Königs. Stets um Eleonores Wohl besorgt.
Blasius (41) – „der“ Spitzel Friedrichs
Sehr verschlagen, würde mit dem Teufel den Löffel teilen.
Prinz Wilhelm von Preußen* (51) – der spätere Kaiser Wilhelm I
Als „Kartätschenprinz“ beschimpft. Erbitterter Gegner der Revolution.
Bettina von Arnim* (63)
Eine unermüdliche Streiterin für eine besssere Welt und mütterliche Freundin Eleonores.
Mustafa Aslan (24) – Ein Kaffeehändler in Wien
William freundet sich mit ihm an und gemeinsam versuchen sie, die Auswüchse der Revolution in Wien zu mildern.
Robert Blum* (40) – Abgeordneter der Paulskirche
Eigentlich ein Mann der Worte, beteiligt er sich an den Kämpfen in Wien. das wird ihm zum Verhängnis.
Maria (50) und Eugen (52) – Haushälterin und Hausknecht der Herbsts.
Wilhelm I, König von Württemberg* (67) – Mit Konrad Herbst befreundet.
Wilhelm IV, König von Preußen* (53) – Zunächst beschwichtigend in der Revolution.
u.v.a.