Ein Roman lebt von seinen Figuren, ihren Wünschen, ihren Sorgen In den folgenden Auszügen aus "Nicht für alle Zeit - Aufbruch", stelle ich Ihnen Eleonore, die Brüder William und Friedrich, den Leutnant August, sowie Fritze, einen Waisenjungen vor.
Sie treffen einander in unruhigen Zeiten, geraten in den Strudel revolutionärer Ereigbnisse und begegnen historischen Figuren.
Ich lade Sie herzlichst ein, an ihrem Leben teilzuhaben.
Eleonore
Der eisige Januarwind schlug Eleonore Herbst entgegen, als sie aus der Kutsche stieg, und ließ sie frösteln. Gedankenverloren griff sie nach ihrem Hut, um ihn festzuhalten. Ihre schlanken Finger bekamen die Hutnadel zu fassen. Natürlich, sie hatte ihn an ihrem braunen Haar fixiert, das im Nacken zu einem Knoten geschlungen war. Das war ihr entfallen, wie so vieles in den letzten Tagen. Sie ließ ihre Hand sinken, blieb stehen und wartete, bis ihr Vater ausgestiegen war.
Vor dem Eingang zum Stuttgarter Hoppenlaufriedhof standen die Trauergäste. Zur Linken die einfachen Leute. Eleonore erkannte den Böttcher Vogt, von dem alle Fässer im Haus stammten, vom Butterfässchen bis hin zu den großen Tonnen, worin sie die Äpfel aufbewahrten. Gib den Menschen Arbeit, niemals Almosen, war die Maxime ihrer Mutter gewesen. Sie wollte das fortführen. Darum hatte Eleonore ihn gebeten, ein paar Kränze zu flechten. Das handwerkliche Geschick dazu hatte er. Ein Anfang. Sie musste später daran denken, ihm seinen Lohn auszuzahlen.
Zur Rechten warteten die Honoratioren Stuttgarts in ihren dunklen Anzügen. Darunter Bürgermeister Gutbrod, weitere Stadträte, Fabrikanten und Rechtsgelehrte, Kollegen ihres Vaters. Dabei stand auch Leutnant August von Engel, der alle um einen Kopf überragte. Er war ihr bereits in der Kirche aufgefallen. Nie, so schien es ihr, verlor er sie aus den Augen. Leutnant von Engel, eine gute Partie, wie alle sagten. Er war der Letze einer alten Adelsfamilie, besaß ein Landgut und diente in der Garde des Königs. Sein Tschako saß ihm akkurat ausgerichtet auf dem Kopf. Die silberfarbenen Pompons blitzten jedes Mal auf, wenn die tiefstehende Sonne hinter einer Wolke zum Vorschein kam. »Ich bin für dich da«, hatte er gesagt. Sie spürte seinen eindringlichen Blick.
Eleonore hörte Hufe auf das Pflaster schlagen und wandte sich um. Ein Mann im dunklen Anzug führte den Leichenwagen in den Friedhof hinein, der Pfarrer folgte. Ihr Vater hielt ihr seinen angewinkelten Arm hin und sie trat neben ihn, hakte sich ein. Die Geste weckte eine Erinnerung an ihre Mutter, wie sie neben ihrem Vater einherging. Stolz und gütig gleichermaßen. Und heute? Vor drei Tagen war ihre Mutter gestorben. Erst vor drei Tagen? Sie besaß kein Zeitgefühl mehr und der Alltag war ihr entglitten. Ihre Welt stand still. Wann hatte sie das letzte Mal gegessen? Und was? In Gedanken sah sie nur den verwaisten Stuhl mit der hohen Lehne am Tisch.
Eleonore blickte auf den dicken Hals des Geistlichen. Wohlgenährt wie alle Pfarrer, die sie kannte. Sollten die Nachfolger von Jesus nicht teilen, wie er es getan hatte? War sie mit solchen Gedanken allein, jetzt, da ihre Mutter gestorben war?
Immer wenn der Wagen über eine Bodenunebenheit rollte, klapperten die Messinggriffe des Sarges gegen das Holz und die Kränze rutschten hin und her. Hinter Eleonore schniefte Maria unablässig in ihr Taschentuch. Für Eleonore war sie wie eine zweite Mutter. Sie führte seit zwanzig Jahren ihren Haushalt und gehörte längst zur Familie.
Schnee knirschte unter den Rädern des Wagens und unter den zahlreichen Stiefeln. Der Wagen stockte kurz und fuhr dann auf die linke Seite neben einen Grabstein. Eleonore nutzte die Gelegenheit und betrachtete den Trauerzug, der sich gleich einer riesengroßen Raupe den Weg bis hinunter zur Friedhofsmauer hinzog. Die Gassenjungen bildeten den Schluss. Sie sprangen weder wie Flöhe umher, noch lärmten sie, was sie sonst taten. Mancher der Jungen hatte bestimmt heimlich eine Träne vergossen und sich an die großen, rotgelben, saftigen Äpfel erinnert, die ihre Mutter immer aus einem Fass zauberte, wenn es galt, einen Dienst zu belohnen, und sei er noch so klein gewesen.
Sie wandte ihr Gesicht ihrem Vater zu. Seine grauen Augen blickten leer geradeaus, seine Haltung glich der einer Marionette mit durchgetrennten Schnüren. Keine Spur mehr von der Kraft, die sonst von ihm ausging. Sein Anzug schlotterte um seine dürren Beine. Und sie, würde sie je wieder lachen können?
Der Zug erreichte die Grube, die sich schwarz von der Umgebung abhob. Eleonore roch die frisch ausgehobene Erde, sah den Totengräber. Der lehnte sich an ein steinernes Rondell, das im Hintergrund in die Höhe ragte. Dieses Grabmal gehörte dem Geheimrat Johann Daniel Sick und Eleonore hoffte, dass ihr Vater bei Mutters Ruhestätte auf derlei Pomp verzichten würde.
Männer traten vor, nahmen die Kränze herab und hoben den Sarg vom Wagen herunter. Gemessenen Schrittes trugen sie ihn zum Grab. Der Pfarrer ging mit gesenktem Kopf an die Stirnseite.
Die Träger nahmen links und rechts Aufstellung und ließen den Sarg an Tauen hinabgleiten. Stoßweise stieg der Atem der Männer in kleinen Wölkchen auf. Eleonore schluckte. Vor wenigen Tagen hatten sie noch gemeinsam das Jahr 1848 begrüßt, hatten miteinander gelacht. Nun blieben ihr nur liebevolle Erinnerungen an ihre Mutter. »Ach Kind!«, hatte diese oft zu ihr gesagt.
Sie trugen nicht nur ihre Mutter zu Grabe, Eleonore verlor eine Verbündete. Sie spürte, wie ihr Vater neben ihr bebte.
»Asche zu Asche, Staub zu Staub«, sagte der Pfarrer.
Ihr Vater warf als Erster mit einer kleinen Schaufel Erde ins Grab. Die Klumpen schlugen polternd auf den Sarg. Eleonore tat es ihm gleich und reichte die Schaufel an Maria weiter. Keiner der höhergestellten Männer drängte sich vor. Ihre Mutter hatte keine Standesunterschiede gekannt und das wurde heute stillschweigend akzeptiert. Würde auch sie den Spagat hinbekommen, bei allen Anerkennung finden?
Leutnant von Engel wollte sie heiraten, obwohl sie nur eine Bürgerliche war, nicht dem Adel angehörte. Liebte er sie so sehr? Oder lag es daran, dass er der Letzte seiner Familie war, dass er niemanden um Erlaubnis fragen musste?
Einer nach dem anderen beugten die Trauergäste ihr Haupt vor der Toten, verharrten einen Augenblick und bekundeten ihr Beileid.
»Sie war eine herzensgute Frau«, murmelte einer.
Eleonore klammerte ihre Hände um den Arm ihres Vaters und zog ihn ein Stück zurück. Er war der Grube immer näher gerückt.
August von Engel trat vor, nahm seinen Tschako und grüßte steif. Wie auf dem Kasernenhof. Der Wind fuhr in seine blonden Haare. Ich bin für dich da, hallten seine Worte in ihrem Kopf. Wollte sie das?
Von der Straße her ertönte heftiges Hufgeklapper, sodass sich alle umwandten. Eleonore sah uniformierte Reiter in Zweierreihen herantraben. Ihnen folgte eine große Kutsche. Als sie anhielt, stob eine Schneewolke um sie herum auf. Eleonore erkannte das königliche Wappen.
»Der König«, raunten die Leute.
Von Engel stand direkt neben ihr. Sie hörte, wie er scharf die Luft einsog und seine Hacken zusammenschlugen. Der König stieg aus der Kutsche in ein Spalier seiner Garde, bedeutete ihnen zu warten und ging allein weiter. Die Trauergäste bildeten eine Gasse, die Frauen knicksten, die Männer hoben ihren Zylinder und neigten ihren Kopf. Von Engel salutierte.
»Es tut mir ja so leid«, sagte der König an Eleonores Vater gewandt. »Ich bin so schnell gekommen, wie es die Straßen zuließen. Ein großer Verlust.«
Ihr Vater nickte stumm. Er hatte dem König während der Befreiungskriege, so besagten Gerüchte, das Leben gerettet. Ihr Vater schwieg darüber oder nannte es Phantastereien. So oder so, aus gegenseitigem Respekt war eine Freundschaft entstanden. Seit Jahren beriet er den König in Rechtsfragen.
König Wilhelm trat ans Grab, machte das Kreuzzeichen und verharrte für einen Augenblick. Als er sich umdrehte, blickte er Eleonore in die Augen. Sanft legte er eine Hand auf ihren Arm.
»Nun seid Ihr die Dame des Hauses.«
Ich bin erst neunzehn, dachte Eleonore.
»Ihr werdet Eurem Vater zur Seite stehen, wie sie es getan hat«, fuhr der König fort.
Ihr wurde heiß. Sie sah ihn an, öffnete den Mund und brachte doch kein Wort heraus.
Der König wechselte ein paar Worte mit ihrem Vater, umarmte ihn zum Abschied und nickte Eleonore zu, als wolle er seine Worte bekräftigen. Leutnant von Engel salutierte erneut. Wieder öffneten die Trauergäste eine Gasse.
Ein paar Männer schwenkten ihren Zylinder, als die königliche Kutsche davonfuhr. Die Trauergemeinde folgte schweigend. Eleonore blieb mit ihrem Vater am Grab zurück.
»Er ist eigens gekommen«, sagte ihr Vater, »um mir beizustehen.« Er blickte nach oben. Die Bewölkung hatte zugenommen und es begann zu schneien. Er streckte seine Hand aus und eine Schneeflocke landete auf seinem Wildlederhandschuh. Eleonore sah zu, wie sie langsam schmolz.
»Selbst der Himmel zollt Henrietta Respekt. Dich versorgt zu sehen, das ist mein größter Wunsch. Der Schlüssel zu einer angesehenen Stellung in der Gesellschaft ist die Ehe. Und Leutnant von Engel …« Er hielt inne, als Eleonore seinen Arm losließ. Sie hatte noch nie ihre Gefühle vor ihm verbergen können.
»Ich …« Ihre Lippen bebten. Wie sollte sie in Worte fassen, was sie bewegte? Ohne ihn damit zu enttäuschen? Sie wollte nicht aus Vernunft heiraten, sondern aus Liebe. Sie wollte lieben. Danach sehnte sie sich. Die Blicke der jungen Männer hatten ihr gefallen. Seitdem August von Engel um sie warb, hielten sich andere zurück. Sein Werben schmeichelte ihr, aber sie empfand keine Liebe für ihn. Ob sich das ändern würde?
Der Druck auf ihrer Brust wurde stärker. Als habe jemand ein Seil um sie gespannt und zöge die Schlinge fester zu. Sie presste ihre Lippen zusammen. Mit einem Mal wurde ihr klar, dass sie jetzt nicht schweigen durfte. Sie atmete tief ein.
»Ich habe dich, Vater.«
Du musst stark sein, ging es ihr durch den Kopf. Sie nahm seine Hände, spürte, wie sie zitterten. Noch fester drückte sie, bis das Zittern nachließ, ganz endete.
»Wir haben uns«, sagte sie.
Er löste sich von ihr, tätschelte zärtlich ihren Arm und nickte. Sein Gesicht war ernst.
»Lass uns gehen.«
Schweigend gingen sie den Weg entlang. Der König hatte Recht, dachte sie. Ihr Vater würde sie brauchen und sie wollte ihm eine gute Gefährtin sein.
Am Ausgang des Friedhofs erwartete sie August von Engel und sah ihnen entgegen. Nein, er schien wieder ganz auf sie fixiert zu sein. Hinter ihm stand sein Bursche und hielt sein Pferd am Zügel.
»Ich muss zum Dienst«, bedauerte von Engel, griff nach ihrer Hand und deutete einen Handkuss an.
Durch ihre Handschuhe hindurch spürte sie seinen Atem.
»Ich werde Sie bald besuchen kommen«, sagte von Engel. Sie nickte, wandte sich um und schritt, Arm in Arm, mit ihrem Vater davon, froh darüber, mit ihm allein sein zu können.
William
Gegenüber einem Frachtsegler nahm er auf einen Poller Platz. Über ihm wirbelten dicke Schneeflocken vom dunkelgrauen Himmel herab. Monoton klatschten die Wellen gegen die Mauer. Er schlang den Mantel um sich, stellte den Kragen hoch und neigte den Kopf nach vorne. Seine Gedanken wanderten zurück, zu längst vergangenen Tagen, zu längst vergessenen Orten. Sie waren damals über Le Havre ausgewandert. Dort hatte Vater ihm gesagt, Friedrich sei gestorben. Warum hatte er gelogen? Er hoffte, von Friedrich darauf eine Antwort zu erhalten. War es nicht seltsam, wieder einen Bruder zu haben? Jemanden, mit dem er vertrauensvoll reden konnte. Wenn sie doch nur bereits einander gegenüberstehen würden.
Irgendwo hinter William erklang eine einzelne Schiffsglocke, der bald weitere folgten. Sie verkündeten die Zeit und holten ihn zurück in das Hier und Heute, brachten sein Gemüt in Gleichklang. Er stand auf. Genug geträumt, mahnte er sich und klopfte den Schnee von seiner Kleidung.
Gleich in der ersten Seitenstraße sah er das Wirtshausschild Zum Goldenen Schlüssel. Mit großen Schritten eilte er die Straße entlang. Schwungvoll betrat er die schummrige Gaststube und übersah dabei den tiefhängenden Türbalken. Es gab einen dumpfen Laut. Ein stechender Schmerz fuhr durch seinen Kopf. Er taumelte vorwärts, griff nach dem Rahmen und schnappte nach Luft. Keiner nahm von ihm Notiz, alle waren sie in Gespräche vertieft. Ein von der Gestalt her rundlicher Wirt versorgte die zahlreichen Gäste emsig mit Bierkrügen. Ein Mädchen ging ihm zur Hand. Sie entdeckte William, der orientierungslos an der Tür lehnte und deutete mit dem Kopf auf einen freien Tisch, der vor dem offenen Kamin stand. Noch etwas benommen ging William durch umherwabernde Rauchschwaden zu dem angewiesenen Platz. Seufzend plumpste er auf einen Stuhl. Der Gastraum war dunkel und gedrungen. Es roch nach Tabak, Schweiß und muffigen Kleidern. William streckte seine Beine aus. Wasser rann seine Stiefel hinunter auf die Holzdielen und verschmolz mit den Pfützen, die bereits den Boden bedeckten. Offenbar war er nicht der erste Gast, der sich hier aufwärmte.
Er strich die rebellische Locke über seinem linken Auge zur Seite und zuckte vor Schmerzen zusammen. Neben der Narbe fühlte er deutlich eine Beule.
Das Mädchen trat an seinen Tisch. »Was darf es sein?«, fragte sie.
William blickte umher.
»Ein Bier und das gleiche wie der Herr dort drüben«, bestellte er und zeigte zu einem Nebentisch.
Ein Holzscheit knackte im Feuer, Funken stoben in die Höhe. Die letzten Schneeflocken in Williams dunklen Haaren schmolzen dahin. Er öffnete die Knöpfe seines Mantels, zog ihn aus und legte ihn über die Stuhllehne. Die satte Wärme schläferte ihn ein. Hin und wieder betraten neue Gäste die Schankstube und brachten eine kühle Brise mit.
Ein weiterer Gast trat ein. William erkannte den Glatzköpfigen, runzelte die Stirn und richtete sich auf. Der hatte ihn nicht gesehen, ging zu einem Tisch in der Ecke, hob eine Zeitung auf und begann zu lesen. Vor ihm lag der Umschlag, den ihm Blasius übergeben hatte. Dessen Dringlichkeit schien den Boten nicht zu kümmern.
Das Mädchen brachte Williams Essen. Erbsenbrei mit verkochten Kartoffeln und einer Scheibe trockenen Schwarzbrots. William aß mit wachsendem Appetit. Kein Festmahl, aber allemal besser als die karge Kost auf dem Segelschiff. Erst als er die letzten Reste des Breis mit dem Brot aufgetunkt hatte, blickte er wieder hoch.
Der Glatzköpfige legte gerade die Zeitung beiseite, nahm einen großen Schluck aus seinem Bierglas und entdeckte dabei William. Einen Moment verharrte er in der Bewegung. Dann stellte er das Glas ab. Zitterte dabei seine Hand oder war es nur eine Sinnestäuschung? Der Mann wich seinem Blick aus, stand auf, legte ein paar Münzen auf den Tisch und eilte zum Ausgang. Dort erschien Moores massige Gestalt. Der Glatzköpfige drückte sich an dem Seemann vorbei. Moore strahlte William an.
»Lausiges Wetter.«
»Kann man sagen«, murmelte William abwesend. Dann wuchs in ihm die Vorfreude auf einen langen Abend mit Moore. Bei einem Bier würde es nicht bleiben.
»Sieh sich das einer an«, rief der Wirt im Hintergrund. Er hielt eines der Geldstücke des Glatzköpfigen in die Höhe.
»Eine Münze mit zwei identischen Seiten«, sagte er in die Runde und reichte sie weiter. Sie gelangte zu William. Der staunte ebenfalls. Es war ein Silbergroschen. Beide Seiten zeigten den Kopf Friedrich Wilhelm IV, des preußischen Königs. Wohl eine Fehlpressung, überlegte er. Dann sah er wieder den Stoffhändler, wie der eben von diesem Mann eine Münze erhalten und eingehend geprüft hatte. Besaß der Glatzköpfige noch mehr dieser Fehlprägungen? Was mochte der Grund sein?
»Ich würde Ihnen gerne die Münze abkaufen«, sagte William zum Wirt. »Für den doppelten Wert. Es sind ja auch zwei Könige drauf.«
Die übrigen Gäste lachten schallend.
Der Wirt nickte. »Warum nicht?«
Friedrich
Prinz Wilhelm von Preußen wartete im Hotel Deutsches Haus in Potsdam auf seinen Gast. Er stand am Fenster, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und blickte hinunter auf die Straße. Die Kirchturmglocken der Stadt hatten schon vor einigen Minuten die volle Stunde geschlagen. Unglaublich! Sein Gast ließ ihn warten.
Endlich trat sein Adjutant ein. Er wandte sich ihm zu.
»Herr Euskirchen«, meldete er.
»Worauf warten Sie, lassen Sie ihn eintreten. Meine Geduld ist erschöpft«, befahl er.
Der Adjutant ging vor die Tür, kam aber sogleich mit dem Gast zurück. Der trat ein. Der Adjutant zog sich zurück und schloss leise die Tür.
Regentropfen perlten an Friedrich Euskirchens Umhang ab. Er verharrte einen Moment, verneigte sich und kam dann näher.
»Königliche Hoheit«, grüßte er.
Der Prinz nickte stumm.
In der Hand hielt Friedrich Euskirchen einen Zylinder. Wasser tropfte auf das Parkett. Sein schwarzes Haar, in dem sich erste graue Strähnen zeigten, glänzte feucht. Als Portrait- und Landschaftsmaler hatte er es zu Ansehen gebracht, aber in seinem zweiten Metier, dem Geheimdienst, galt er als einer der Besten. Der Prinz traute ihm nicht über den Weg. Er fürchtete seine Verschlagenheit genauso wie dessen Netz an Spitzeln. Nichts blieb ihm verborgen, so hieß es. Deswegen wollte der König, sein Bruder, dass er Friedrich Euskirchen nach Paris entsandte.
Als der nähertrat, verharrte der Blick des Prinzen für einen Moment am linken Ärmel des Mannes, der lose herabhing. So hatte der Besucher wenigstens einen Makel, dachte er.
»Ihr Bruder kommt zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt«, brach es aus ihm heraus und er verwarf damit all die schönen Worte, die er sich zurechtgelegt hatte.
»Er ist ein Geschenk des Himmels!«, widersprach Friedrich mit einem Schmelz in der Stimme, der laut Gerüchten bei Frauen wahre Wunder bewirkte. Der Prinz hob irritiert die Augenbrauen.
»Er ist mein Passierschein zu den Demokraten. Überall wo er ist, werden sie ihn umringen«, fuhr Friedrich fort. »Und ich werde dabei sein.«
»Das ist in der Tat ein Aspekt«, gab der Prinz widerwillig zu, dem die Selbstsicherheit seines Besuchers erheblich gegen den Strich ging. »Doch ist er Ihr Bruder.«
»Nicht nur das«, frohlockte Friedrich. »Er soll ein Spiegelbild meiner selbst sein, so berichten meine Agenten. Wer ihm vertraut, kann mir nicht misstrauen.«
»Am Ende könnte man glauben, Sie hätten alles so geplant«, sagte der Prinz.
»Ich plane auf alle Fälle, ihn mit Bettina von Arnim bekanntzumachen«, sagte Friedrich. »Immerzu schreibt sie Briefe an den König, bittet um Vergebung für Verbrecher, appelliert an seine liberale Gesinnung. Seine Majestät lässt sich blenden und reicht jenen die Hand, die nur Böses im Schilde führen.«
»Sie ist eine Plage an Gutmütigkeit«, stimmte der Prinz zu. Was sagte er da? Er räusperte sich und wandte seinem Gast den Rücken zu. Wähnte sich Euskirchen auf einer Stufe mit ihm? Nur gut, dass es der König ihm übertragen hatte, mit diesem verschlagenen Agenten zu reden. »Es steht Ihnen nicht zu, über den König zu richten«, sagte er.
»Das würde ich mir niemals anmaßen. Aber ich werde Ihren Bruder, den König, dazu bringen, dass er ihre Briefe nicht einmal mehr mit der Zange anfasst«, versprach Friedrich.
Der Prinz wollte nicken, hielt aber mitten in der Bewegung inne. Bettina von Arnim, diese Ausgeburt einer herzensguten Frau! Mit ihrem Armenbuch hatte sie Öl ins Feuer gegossen, hatte die unteren Schichten zum Aufbegehren ermutigt. Und dann dieser Titel: »Dies Buch gehört dem König«. Noch heute schwollen ihm die Adern an, dass dies sein Bruder nicht unterbunden hatte. Wie schwach er doch war.
Der Prinz drehte sich wieder zu seinem Besucher um. So falsch schien es ihm auf einmal gar nicht, jemanden wie Friedrich Euskirchen bei der Hand zu haben. Der besaß allem Anschein nach Tatkraft. Man sollte nicht alles Metternich und seinen Gefolgsleuten in Wien überlassen.
»Wegen Ihres Bruders kann ich Sie nicht mit der Angelegenheit betrauen, die dem König so wichtig ist. Mein Bruder möchte wissen, was in Paris los ist. Die Franzosen sollen uns nicht ein weiteres Mal überraschen, wie anno 1789 oder anno 1830. Jemand muss sich vor Ort ein Bild machen.«
»Beides lässt sich miteinander verbinden«, entgegnete Friedrich völlig ungerührt.
Der Prinz hob ein weiteres Mal die Brauen.
»Seine Majestät hat mit mir darüber gesprochen, als ich ihn heute traf«, sagte Friedrich Euskirchen.
Dem Prinzen verschlug es die Sprache und er fragte sich, welche Rolle er überhaupt spielte? Seine Hände begannen zu zucken. Schnell verschränkte er sie hinter seinem Rücken. Er wollte dem Agenten gegenüber keine Schwäche zeigen.
»Seit ich seinen Brief erhielt, habe ich jemanden auf meinen Bruder angesetzt«, berichtete Friedrich. »Keiner seiner Schritte bleibt mir verborgen.«
Offenbar war das Netz an Spitzeln, das Friedrich Euskirchen unterhielt, noch größer und dichter als er vermutet hatte. Da galt es aufmerksam zu sein.
»Doch bleibt er Ihr Bruder.«
»Was nicht sein Schaden sein muss.« Friedrich lächelte. »Ich lasse ihm alle Freiheiten. Er soll ruhig Kontakte knüpfen. Die werden mir später nützlich sein.«
»Mein Adjutant wird Ihnen Informationen zukommen lassen«, antwortete der Prinz knapp. Und ich werde dafür Sorge tragen, dass man dich im Auge behält, dachte er im Stillen. Skrupel gehörte offenbar nicht zu Friedrichs Schwächen. Das galt es zu berücksichtigen. Dem Wunsch des Königs wurde also entsprochen, oder war es mehr der Wunsch Friedrich Euskirchens? Der Prinz war jedenfalls froh, als alles gesagt war und er seinen Gast verabschieden konnte. Sein Adjutant trat ein.
Eine Weile blickte der Prinz nachdenklich aus dem Fenster. Ihm missfiel die vertraute Umgangsweise seines Bruders mit Friedrich. Der blieb ein Spitzel. Da kam ihm ein Gedanke. Er eilte an seinem Adjutanten vorbei zur Tür. Linker Hand lag der Korridor verlassen. Aber zur Rechten, nur wenige Schritte entfernt, stand Friedrich Euskirchen und blickte in einen Wandspiegel. Eben richtete er sich zur vollen Größe auf. Er lächelte sein Spiegelbild an, und als er ihn sah, nickte er ihm zu. Erst dann machte er kehrt und ging davon. Der Prinz von Preußen sah ihm nach.
»Gebe Gott, dass er stets auf unserer Seite steht«, murmelte er.
August von Engel
August zog seine Schultern hoch, reckte seinen Oberkörper über den Tisch, angriffslustig wie ein Stier, und fixierte den Weinhändler. Die Konturen der übrigen Gäste, die um den Tisch herumstanden, sowie die der anderen Mitspieler, verschwammen vor seinen Augen.
»Wer nicht wagt, der nicht gewinnt«, sagte August und legte den kümmerlichen Rest seines Geldes auf den Tisch.
Sein Gegenüber wich zurück. August hasste ihn in diesem Moment, hasste ihn, weil er für ihn die neureichen Bürger verkörperte. Für einen Moment kehrten seine Gedanken an den Morgen zurück. An die Demütigung. Wie ein Aasgeier war der Fabrikant durch das elterliche Haus gegangen, hatte mit ihm um die Preise für die Möbel gefeilscht. Wohl wissend, dass er auf das Geld angewiesen war. Nun standen etliche Räume leer und seine Kasse war wieder ein wenig mehr gefüllt. Wie lange würde das Vorhalten? Diese Großbürger und Fabrikanten wurden reicher und reicher. Im Gegensatz zu ihm. Das musste nicht so bleiben. Das durfte nicht so bleiben.
Er grinste böse, fletschte seine Zähne. Der Weinhändler runzelte die Stirn. Der denkt wohl, ich habe ein gutes Blatt. Denk was du willst. Ich werde dich kleinkriegen.
Es war kein gutes Blatt.
Es war kein guter Abend.
Aber er durfte dieses Spiel nicht verlieren. Lass ihn aufgeben, betete von Engel.
Der schmächtige Junge, der dem Wirt zur Hand ging, huschte vorbei.
»He, komm her und schenk nach«, schnauzte er ihn an und setzte sich wieder aufrecht. Der Junge blieb stehen, wandte sich um und trat an den Tisch. Mit zitternden Händen goss er Rotwein in seinen Becher, starrte dabei gebannt auf das Geld, das in der Mitte des Tisches lag.
»Glotz nicht so blöde«, fuhr ihn August an und nahm einen kräftigen Schluck. »Schenk lieber nach.« Verstohlen schielte er zu dem Weinhändler.
Dessen Mundwinkel zuckten.
»Ich steige aus«, grunzte der und schmiss seine Karten hin.
August verzog keine Miene. Das war knapp gewesen. Der Weinbauer stand auf und brabbelte im Davongehen ein paar Flüche. Die klangen wie Musik in seinen Ohren.
»Ich will die Karten sehen«, forderte der Metzgermeister, der links von ihm saß.
»Das Spiel ist aus«, knurrte August. Er warf seine Karten auf die des Weinhändlers und vermischte sie sogleich.
Der Metzger stand auf, schüttelte seinen Kopf und schlurfte davon. Die anderen Zuschauer gingen zurück an ihre Plätze. Nur Leutnant Mühlitz blieb stehen, trat sogar näher und setzte sich zu ihm.
»Heute mal gewonnen?«, sagte er in einem Ton, der August nicht gefiel.
»Ach sei ruhig«, fuhr er ihn an.
Aus seiner Innentasche fischte er seine Börse hervor, öffnete sie und wischte die Münzen hinein. Eine holte er zurück und legte sie vor sich.
»Junge, die Flasche! Ich will die ganze Flasche«, rief er über seine Schulter in den Schankraum.
Er sah wie der Wirt näherkam, nervös an seiner Schürze herumspielte.
»Hier«, sagte August und reichte dem Mann die Münze. »Das wir wohl reichen.«
»Los, los, bediene den Herrn Leutnant«, rief der Wirt sogleich zu dem Jungen. Der eilte herbei und stellte eine halbvolle Weinflasche ab.
»An deiner Stelle wäre ich freundlicher«, sagte Mühlitz. »Wie wäre es, wenn du einen Teil deiner Schulden abbezahlen würdest?«
August kniff seine Lippen zusammen. Er hasste diesen bürgerlichen Offizier. Die Welt geriet aus den Fugen. Der Adel verlor seine Privilegien. Auf dem Land zogen die Bauern mit Dreschflegeln bewaffnet vor die Schlösser und forderten die Befreiung von allen Lasten und freie Wahlen der Gemeinderäte. Manche Adelsfamilie war in den letzten Tagen und Wochen nach Stuttgart umgezogen. Dort sorgte das Militär für Ruhe und Ordnung. Aber wie lange noch? Die Armee sollte demnächst auf die Verfassung vereidigt werden, nicht mehr auf den König. Was mochte als nächstes kommen?
»Ja, ja, du bekommst dein Geld«, beruhigte er ihn. »Ich werde heiraten«, brach es dann aus ihm heraus. »Hörst du!«
»Die angedachte Braut soll sich zieren wie man hört«, sagte Mühlitz.
August sprang auf. Sein Stuhl krachte polternd auf den Boden. Die Gäste hoben ihre Köpfe. Mühlitz stand ebenfalls auf. Sein Stuhl blieb stehen. Er sah ihn mitleidig an.
»Ich werde mich nicht mit dir duellieren. Ich will mein Patent behalten«, sagte Mühlitz. »Und nicht einer Frau wegen verlieren.«
August hob den Stuhl auf, nahm wieder Platz. Sein Kamerad tat es ihm gleich.
»Die Mutter hat schon ihren eigenen Kopf gehabt«, fuhr Mühlitz in versöhnlichem Ton fort. »Ständig war sie wohltätig unterwegs.«
»Wenn sie erst einmal meine Frau ist, werde ich sie lehren, was sie darf.«
»Worauf wartest du?«
»Ihr Vater ist einverstanden, aber sie sagt, sie sei noch zu jung.« Von Engel verschwieg einen weiteren Grund, den Eleonore genannt hatte. »Viele möchten heiraten«, hatte sie gesagt, »und erhalten keine Genehmigung, weil kein Geld da ist.«
»Das ist nur zu ihrem Wohle«, hatte er entgegnet. »Das verhindert die Ausbreitung von Elend.«
»Und so werden immer mehr uneheliche Kinder geboren, die in unsicheren Verhältnissen aufwachsen, ausgesetzt werden und am Ende im Waisenhaus landen.«
Was für verwerfliche Ansichten! Was für unschickliche Aussagen aus dem Munde einer Frau.
»Dann musst du sie zu ihrem Glück zwingen«, sagte Mühlitz in seine Gedanken hinein. »Mach ihr ein Kind.«
August von Engel hob die Augenbrauen. »Da müsste ich zuvor ihren Vater erschlagen und die Haushälterin gleich mit.«
»Ist ein Küken erst einmal aus dem Nest gefallen, dann gehört es dem Stärkeren«, sagte Mühlitz, stand auf und verabschiedete sich.
August blieb sitzen, leerte den Becher in einem Zug und schenkte nach. Wein schwappte auf den Tisch. Was wollte Mühlitz andeuten, mit diesem »aus dem Nest gefallen«? Er ballte eine Faust und brütete weiter. Ich werde sie bändigen, oh ja. Wenn sie nur erst wieder zurückkommen würde aus Berlin. Drei Briefe hatte er Eleonore Herbst geschrieben, hatte ihr versichert, wie sehr er sie vermisste. Nur einen Brief hatte er als Antwort erhalten. Sie schrieb nichts davon, dass sie ihn vermisste. Wieder war der Becher leer. Er hob erneut die Flasche. Die war leer. Mit glasigen Augen suchte er nach dem Jungen.
Fritze
Sie erreichte das Hamburger Tor. Im Grunde war es gar kein Tor. Zwei Obelisken ragten links und rechts in die Höhe. Ab da begann die Gartenstraße. Eleonore blieb stehen und hob den Kopf. Dort standen die Familienhäuser, von denen Bettina in ihrem Armenbuch geschrieben hatte.
Kinder spielten vor einem mehrgeschossigen, langgestreckten Haus. Langsam ging sie weiter. Die Straße wurde uneben, und anstatt fest gemauerter Häuser standen da Bretterbuden, die stützend aneinander lehnten. Vereinzelt gab es Freiflächen. Das matte Grün des Grases malte ein wenig Farbtupfer in die ansonsten triste Umgebung.
Sie ging weiter, passierte eine Destillation, vor der ein paar Männer standen und laut miteinander sprachen, blieb dann an der nächsten Querstraße stehen und blickte zurück. Die Familienhäuser ragten wuchtig hervor. Fast so wie das Schloss, überlegte sie. Und doch war es etwas völlig anderes. Eleonore schluckte. Sie überquerte die Straße und ging die andere Seite zurück. Ihr Herz pochte mehr und mehr, je näher sie dem Familienhaus kam.
Direkt vor dem Eingang saß ein Junge. Mit einem Stecken stocherte er im Unrat der Straße. Sie starrte für einen Moment auf sein linkes Bein. Eine Lederkappe stak auf dem Knie, der Fuß fehlte. Sie wollte in ihre Geldbörse greifen, dem Jungen ein paar Münzen geben, als der seinen Kopf hob und sie ansah. Eleonore senkte ihren Blick und hastete an ihm vorbei in das Haus.
Der Geruch nach Essig und billigem Wein nahm sie in Empfang. Finstere Korridore führten nach links und rechts, ein Treppenhaus verlor sich im Dunkeln. Aus den Wohnungen hörte sie gedämpft Stimmen.
»In ihren angenehmen Gesichtszügen liegt viel Kummervolles.« Eleonore fiel diese Passage aus Frau von Arnims Armenbuch ein. Gartenstraße 92 a, Stube 71. Wo sollte sie anfangen, wo aufhören?
In Bettina von Arnims Buch stand eine Aufstellung, wonach vier Personen für ihr Essen, Brennholz und ein bisschen Tabak täglich sechs Silbergroschen benötigten. Sie wollte ein paar der Familien aufsuchen und ihnen zehn Silbergroschen geben. Ihnen einen sorgenlosen Tag schenken.
Einen Tag.
Sie wollte keine Almosen verteilen. Darum hatte sie dem jungen kein Geld zugesteckt. Sie hatte einen Plan. Langsam ging sie den Flur entlang, der von einer öligen Funzel schwach erleuchtet wurde und las die Namen auf den Türschildern. Würde sie auf die treffen, von deren Schicksal sie gelesen hatte? ›Schneidermeister Jablonski‹ stand auf einem Schild. Eleonore blieb stehen, holte noch einmal Luft. Es ist egal, wo ich beginne, dachte sie und klopfte an. Sie musste ein zweites Mal klopfen, bis jemand die Tür einen Spalt öffnete.
»Wer da?«, fragte eine krächzende Stimme.
»Mich schickt meine Herrin«, log Eleonore. Die Menschen sprachen eher mit ihr, wenn sie sie auf der gleichen gesellschaftlichen Stufe wähnten. So ihr Gedanke.
Ein buckliger Mann mit schütterem Haar trat in den Flur. Linkisch sah er schnell nach links und nach rechts.
»Kommen Sie herein«, bat er dann. Und fügte hinzu: »Ich dachte es sei der Hausverwalter wegen der Miete.«
Eleonore betrat die Wohnung. Durch ein schmales Fenster fiel Licht herein. Sie musste blinzeln. Zur Linken, in einem großen Bett, lag eine Frau. Die starrte mit fiebrigen Augen zu ihr. Zwei Mädchen, halbnackt, saßen am Fußende.
»Was will Ihre Dame?«, fragte der Mann.
Eleonore konnte nicht antworten, trat an das Bett und reichte der Kranken die Hand. Heiß und kalt zugleich. Sie riss sich zusammen, ließ die Hand los und drehte sich um.
»Meine Herrin möchte ein paar Sachen von ihnen geschneidert haben«, sagte sie.
Jablonski kratzte sich am Kopf. »Wie kommt Ihre Dame auf mich?«, fragte er.
»Eine Empfehlung«, antwortete sie. Mit zittrigen Fingern holte sie ihre Geldbörse hervor und entnahm ihr ein paar Geldstücke. »Wenn Sie bereit sind, soll ich Ihnen gleich einen Vorschuss geben«, führte sie ihre Lügengeschichte weiter.
Jablonski nahm zögernd das Geld.
»Sie dürfen das Geld ausgeben«, sagte Eleonore. »Ich werde morgen wiederkommen und ihnen die Arbeit bringen.«
Sie brachte ein verkrampftes Lächeln zustande, nickte der Frau und den Kindern zu und reichte dem Schneidermeister die Hand. Im Flur liefen ihr Tränen übers Gesicht. In ihrer Hand spürte sie noch die Hand der Frau. Nur eine flüchtige Berührung, doch ausreichend, um ihr zu zeigen, dass für die Kranke wenig Hoffnung bestand. Und sie konnte nichts dagegen unternehmen. Wie in Trance ging sie zum Ausgang. Ein weiteres Schicksal konnte sie heute nicht mehr ertragen.
Vor dem Haus saß immer noch der Junge. Vor sich auf seinem Schoß lag ein Stück Kartonpappe.
»Möchte die Gnädigste gezeichnet werden?«, fragte er, zu ihr aufblickend und den Kopf ganz in den Nacken gelegt.
Eleonore sah ihn ungläubig an.
»Womit willst du mich zeichnen?«, fragte sie.
Als Antwort zog der Junge ein Papier hervor und legte es auf die Pappe. Mit der anderen Hand hielt er ihr einen dunklen Keil entgegen. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte Eleonore, dass es ein Stückchen Kohle war.
»Ick könnte dir ein Lächeln ins Gesicht malen.«
»Das bekomme ich selbst hin«, sagte sie. Mit den Handrücken wischte sie die Tränen von ihren Wangen. »Ich soll dir also Modell stehen?«, fragte sie. »Wieviel kostet das?«
»Was de entbehren kannst.«
»Na gut.« Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Hauswand.
Der Junge, er mochte zwölf oder dreizehn Jahre alt sein, musterte sie eingehend und machte dann die ersten Striche.
Eleonore dachte nach. Mit dem Schneider Jablonski hatte sie einen Anfang gemacht. Dem würde sie morgen eines ihrer Kleider vorbeibringen. Sie würde ihm einen Lohn zahlen, kein Almosen. Und er würde das Geld ausgeben. Das war ihr Plan, Geld in Umlauf zu bringen. Lass den Menschen ihren Stolz, so die Losung ihrer Mutter. Die Erinnerung an Mutter trieb ihr beinahe erneut Tränen in die Augen.
»Fertig«, unterbrach der Junge ihre sentimentalen Gedanken und hob ihr das Papier entgegen. Sie nahm es.
Konnte das möglich sein? Als blicke sie in einem dämmrigen Raum in den Spiegel. »Fein«, brachte sie endlich hervor, griff in ihre Geldbörse und fischte ein paar Münzen heraus.
»Ist das genug?«, fragte sie.
Der Junge starrte auf ihre Handfläche und pfiff. Dann blickte er sie an. »Leg es mir in die Hand«, wies er sie an. »Oder willste schwarze Pfoten wie icke«.
Eleonore lächelte. Die Hände des Kindes waren schwarz von der Kohle.
»Ich danke dir«, sagte sie zum Abschied.
Es ist doch was anderes, Elend zu sehen als davon zu lesen, dachte sie. Beim Weitergehen kam ihr der unvollendete Brief an Frau von Arnim wieder in den Sinn. Wie sollte sie es anstellen, mit ihr Kontakt aufzunehmen? Gerne hätte sie ihren Vater gefragt, doch den würde ihr Interesse an Frau von Arnim wundern. Nach wenigen Schritten blieb sie abrupt stehen. Da gab es eine Möglichkeit. Ihr wurde heiß. Konnte das gutgehen? Sie überdachte das Für und Wider, gab sich endlich einen Ruck und ging zurück.
Der Junge bemerkte sie erst gar nicht. Eine Schar Kinder lungerte um ihn herum und bestaunte die Münzen, die er immer noch in der Hand hielt.
»Kannst du auch Häuser malen?«, fragte Eleonore den Zeichner.
»Klar.«
»Dann mal mir das hier.« Eleonore zeigte auf das Familienhaus.
»Det Papier ist alle«, sagte er.
»Mal es auf die Rückseite«, bat Eleonore. »Ich gebe dir noch mal so viel wie eben.«
Wieder pfiff der Junge. Die anderen wichen ein Stück zurück, als er wieder die Pappe als Unterlage ausbreitete. Sie reichte ihm das Papier.
Sofort ging der Junge ans Werk. Die anderen Kinder bestaunten, wie auf dem Blatt ein Haus entstand. Eleonore blickte ebenfalls gebannt auf die Hand des Jungen, die flink hin und herfuhr. Ein wahres Talent.
Eleonore zählte schnell die Münzen und gab sie dem Jungen, als der ihr das fertige Werk reichte.
»Hat einer von euch einen Stift?«, fragte sie.
Der Junge griff in seine Jacke und fischte einen winzigen Stummel eines Bleistifts hervor.
»Hat jemand weggeworfen.« Er reichte ihn Eleonore.
Sie schrieb auf den unteren Rand: »Dies Bild zeigt nur die Fassade, Ihr habt uns einen Einblick gewährt, der uns mahnt, nicht untätig zu sein.« Darunter setzte sie ihren sowie den Namen ihres Hotels.
Sie blickte um sich.
»Jetzt brauche ich noch einen Boten.«
»Icke«, rief ein Kind. »Jaaa«, ein anderes. Alle traten ihr näher.
Der Zeichner hob eine Hand. »Den sollste haben«, sagte der Junge, steckte zwei Finger in seinen Mund. Ein lange anhaltender, durchdringender Pfiff ertönte. Gleich danach kam ein blondhaariger Junge aus dem Haus geeilt.
»Lasst ihn in Ruhe«, knurrte er und stellte sich schützend vor den Maler.
»Ist das dein Wachhund?«, fragte Eleonore.
»Keine Gefahr«, erklärte der Zeichner seinem Freund. »Die Magd hier benötigt einen Boten.«
»Bist du flink?«, fragte Eleonore den Blondschopf.
»Klar«, sagte der. »Wohin soll‘s denn gehen?«
Eleonore nannte ihm die Adresse der Frau von Arnim. »Kannst du ihr das Bild bringen?«
»Das ist aber ‘ne Ecke weg«, klagte er. »Und icke will ihn«, er deutete auf den Zeichner, »nicht alleene lassen.«
»Ist es für einen Silbergroschen möglich?«, fragte sie. »Ich werde hier inzwischen deinem Freund Gesellschaft leisten.«
»Bin schon unterwegs«, sagte der Junge, nahm die Münze, die sie ihm entgegenhielt und flitzte los.
Sie sah ihm nach, straffte ihren Rücken. Würde Frau von Arnim die Nachricht entgegennehmen? Würde sie antworten? Ein Versuch war es wert.
Sie blickte zu dem Zeichner. »Wo hast du malen gelernt?«, fragte sie.
»Ick kann es eben«, gab er eine knappe Antwort.
»Fritze ist ein Naturtalent«, sagte ein anderer.
»Wenn wir jetzt Papier hätten, dann würde ich euch alle zeichnen lassen«, sagte Eleonore.
»Kriegste da keinen Ärger, wenn du das ganze Geld deiner Herrschaft ausgibst«, fragte ein anderes Kind.
»Die haben genug«, sagte Eleonore. »Die merken das gar nicht.« In das Lachen der Kinder hinein blickte sie die Straße hinunter. Ihr Bote war längst verschwunden.
Figurenverzeichnis (*historisch)
Eleonore Herbst (19 Jahre alt)
Sie will ein selbstbestimmtes Leben führen und aus Liebe heiraten, nicht aus Vernunft. Das Los der Armen liegt ihr am Herzen und sie schreibt darüber heimlich ein Buch. Ihr großes Vorbild dabei ist Bettina von Arnim. Eleonore ist selbstbewusst, hin und wieder vorlaut.
William Garrison Euskirchen (23) – Journalist
In einem amerikanischen Waisenhaus hat er erfahren, was es heißt, unfrei zu sein. Er kämpft mit Worten für Gerechtigkeit. William steckt voller Tatendrang, handelt zuweilen leichtsinnig, was ihm bereits Narben an Leib und Seele eingebracht hat. Seinem Bruder sieht er sehr ähnlich.
Friedrich Euskirchen (33) – Williams Bruder, Portraitmaler und Agent in Berlin
Er möchte die bestehende Ordnung um jeden Preis erhalten. Frauen gegenüber ist er galant und Affären nicht abgeneigt. Bei Eleonore erwacht sein Wunsch nach einer festen Bindung. Friedrich kennt keine Skrupel. Bei einer Aktion verlor er vor Jahren seinen linken Arm.
August von Engel (26) – Leutnant
Mit Glücksspiel gefährdet er seinen Besitz und sein Ansehen. In einer Heirat mit Eleonore sieht er die Lösung seiner Geldsorgen. August kaschiert seine Unsicherheit durch Brutalität.
Konrad Herbst (62) – Eleonores Vater
Anwalt und Freund des württembergischen Königs. Stets um Eleonores Wohl besorgt.
Clara (17) – Dienstmädchen in Berlin
Freundet sich mit William an.
Blasius (41) – „der“ Spitzel Friedrichs
Sehr verschlagen, würde mit dem Teufel den Löffel teilen.
Prinz Wilhelm von Preußen* (51) – der spätere Kaiser Wilhelm I
Als „Kartätschenprinz“ beschimpft. Erbitterter Gegner der Revolution.
Bettina von Arnim* (63)
Widmet ihr „Armenbuch“ dem preußischen König, mit dem sie im Briefwechsel steht.
Rudolf Danner (28) – Arbeiter und Revolutionär
William hilft ihm und seinen Freunden bei einem Flugblatt.
„Fritze“ Friedrich (12) – ein begabter Zeichner
Eleonore trifft das einbeinige Kind im Armenhaus in Berlin; fortan ist es ihr ans Herz gewachsen.
Maria (50) und Eugen (52) – Haushälterin und Hausknecht der Herbsts.
Wilhelm I, König von Württemberg* (67) – Mit Konrad Herbst befreundet.
Wilhelm IV, König von Preußen* (53) – Zunächst beschwichtigend in der Revolution.
u.v.a.